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wenigen gelten, „die an den Parlamentarismus glaubten, weil er selbst sein
Amt als Abgeordneter in der vollkommensten Weise ausübte“.287
Ein Faktor, der für die negative Bewertung des Parlamentarismus in der
Ersten Republik stark ins Gewicht fiel, war der Umstand, dass die parla-
mentarische Tradition bereits in der Monarchie problembehaftet war.288 Der
liberale Geist, der dem Konstitutionalismus zugrunde lag, trug zu dessen
Scheitern bei, weil er in seiner Fixierung auf kirchenfeindliche Anliegen ak-
tuelle soziale und ökonomische Bedürfnisse übersah.289 Mit dem allgemeinen
Wahlrecht erweiterte sich die politische Basis von einer Gruppe von Honora-
tioren, die, gemessen an der präkonstitutionellen Zeit, jedenfalls theoretisch,
tatsächlich zu mehr Rationalität in der Politik beitragen konnten, zu jener
Allgemeinheit, die die Demokratie – um es mit Max Scheler zu sagen – zur
„Stimmungsdemokratie“ entarten zu lassen schien.290
Diese historische Ausgangslage dürfte Franz Rehrl vor Augen gehabt
haben, der als das Grundproblem Österreichs einen „extremen“ Parlamen-
tarismus bezeichnete: Der Sprung vom Obrigkeitsstaat zur Demokratie sei
zu groß gewesen, um verkraftet werden zu können; daher sei die parlamen-
tarische Entwicklung falsch verlaufen.291 Nicht von ungefähr thematisierte
er „die radikal parlamentarische Konzeption, die am Anfang der Ersten Re-
publik stand“.292 Er wünschte einen stärkeren Bundespräsidenten und ein
plebiszitäres Element.293 Die Stärkung des Bundespräsidenten durch die
Verfassungsnovelle von 1929 hielt auch Ludwig Adamovich für wichtig: Sie
diene der Gewaltenteilung294 und sichere „die parlamentarische Regierung
gegen die Möglichkeit der Entartung zur schrankenlosen Parteienherr-
schaft“.295
Hermann Stipek zitierte eine Abhandlung von Franz Graf Thun-Ho-
henstein über die Notwendigkeit einer Reform des Parlaments, wobei er
Analogien zur Situation der 1930er-Jahre erkannte296. In der Tat war die
Geschäftsordnung bereits im 19. Jahrhundert vielfach als unzureichend
empfunden worden.297 Seit dem Übergang zur direkten Wahl der Volksver-
287 födermayr, Vom Pflug, 39.
288 newman, Zerstörung, 304; wohnout, Die Verfassung, 27.
289 W. lorenZ, Katholisches Geistesleben, 23; sutter, Probleme, 564.
290 newman, Zerstörung, 30.
291 H. dachs, Franz Rehrl, 251; ähnlich charmatZ, Vom Kaiserreich, 185.
292 tálos, Handbuch, 60–67 (A. PelinKa).
293 hanisch, Franz Rehrl, 23.
294 adamovich, Grundriss, 28.
295 adamovich, Grundriss, 64–66.
296 stiPeK, Das Werden, 9.
297 rumPler, Parlamentarismus, 3 f.; sutter, Probleme, 549.
4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580