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Der von der Maiverfassung vorgesehene Wahlmodus, nämlich die Bestel-
lung der Mandatare durch die Stände, war in den Augen von Josef Dobrets-
berger Ausdruck von Ehrlichkeit und Geradlinigkeit, politisch korrekter als
die Wahlen zum deutschen Reichstag 1933 oder die italienischen Senats-
wahlen 1934, die keine echten Wahlen gewesen seien, „nicht anders zu wer-
ten als Propagandazüge oder Häuserbeflaggungen“. Demokratische Wahlen
bildeten lediglich die Stimmung eines einzigen Tages ab, und die Mandatare
fühlten sich ohnehin nicht an den Volkswillen gebunden.322 Außerdem, er-
klärte der Volkswirt in aristotelischer Tradition, sei „die Zeit, die das arith-
metische Mittel aus zwei Anschauungen für eine Lösung hielt“, vorüber323,
und gab zu bedenken, es gebe „Forderungen, die sich nicht halbieren lassen“.
Besser als die Arithmetik sei die politische Geometrie: Die Stärke einer Par-
tei beruhe auf deren Ideen, nicht auf der Zahl der Anhänger; würden, wie es
im parlamentarischen System der Fall sei, für wirtschaftliche Vorteile welt-
anschauliche Konzessionen gemacht, komme es zu einem zermürbenden
„Stellungskrieg“ der Parteien, der häufige Neuwahlen erforderlich mache.324
Auch Konstantin von Hohenlohe sah in der Anpassung an den „arithmeti-
schen Mehrheitswillen“ eine Gefahr: Überzeugt von der Wichtigkeit des Be-
rufenseins der Staatsführer, hielt er allenfalls ein negatives Einspruchsrecht
gegen die staatliche Gewalt für gerechtfertigt; sklavischer Ausführer des
Volkswillens sollte diese nicht sein.325 Hans Karl Zeßner-Spitzenberg sprach
von einer „plumpen Herrschaft der Zahl“, die es in der konstitutionellen
Monarchie in dieser Form nicht gegeben habe.326 Hermann Roeder schrieb
das „Gesetz der größeren Zahl“ einer „fadenscheinigen Jakobinerlogik“ zu;
Rousseau sei einem grundlegenden Irrtum erlegen, wenn er geglaubt habe,
der Überstimmte habe sich einfach geirrt. Der Gesamtwille sei nicht der der
Mehrheit, sondern der den Sacherfordernissen entsprechende.327
Die Massen, so das NR, fasziniere eher „ein eigenartiger Magnetismus“
der Autokraten. Es sei daher verständlich, wenn, so unter Berufung auf eine
Schweizer Zeitung, in Paris bereits eine „Liga gegen die Politiker“ im Entste-
hen sei, um die Entartung der Demokratie zur Ochlokratie zu verhindern.328
Diese Gefahr bestehe auch deshalb, weil, worauf Oswald Spengler hinweise,
seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein Prozess der Aushungerung jener
Schicht im Gang sei, welche die materiellen Voraussetzungen hätte, erziehe-
322 dobretsberGer, Vom Sinn, 34–38.
323 dobretsberGer, Vom Sinn, 9; vgl. PiePer, Über die Gerechtigkeit, 82–84.
324 dobretsberGer, Vom Sinn, 29–32.
325 hohenlohe, Ständestaat, 8; vgl. KluGe, Ständestaat, 51; streitenberGer, Leitbild, 214 f.
326 NR 29. 8. 1920 (H. K. Zeßner-sPitZenberG).
327 StL 1935, 59 (H. roeder).
328 NR 10. 2. 1923.
4.2 KRITIK AN DER PARLAMENTARISCHEN DEMOKRATIE 209
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580