Page - 222 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Image of the Page - 222 -
Text of the Page - 222 -
unveräußerliche und einzigartige Privilegien.108 In neuthomistischer Tradi-
tion wollte Leopold von Andrian Gott an seinen Wirkungen in der sichtbaren
Welt erkennen.109 Die Ausführungen über den kosmischen ordo sind der na-
türlichen Theologie geschuldet: „Der Makrokosmos und die unendlich vielen
Mikrokosmen, aus denen er besteht, sind Ordnungen, planvolle Zusammen-
ordnungen von Mannigfaltigem zu einer Sinneinheit, die Zweck der Ord-
nung ist.“110 Der Mensch sei als zwischen körperlichem und geistigem Reich
angesiedeltes Geschöpf der Mitte zu verstehen.111 Paul Thun-Hohenstein lei-
tete aus dieser Position die Pflicht zur „demütige(n) Einordnung des Ichs in
das beherrschte All“ ab: Dies sei eine dem Wesen des Österreichers entspre-
chende Selbstverständlichkeit, die ihm Freiheit verleihe.112
1937 ließ Leopold von Andrian mit dem Buch Österreich im Prisma der
Idee ein weiteres Zeugnis seines ordo-Gedankens folgen.113 In diesem apo-
logetisch wirkenden Dialog versuchte er eine Erklärung des hierarchischen
Aufbaus der Welt und wiederholte den Hinweis auf die Analogien zwischen
Kosmos und idealem politischem System. Den Untertitel Katechismus der
Fuehrenden begründete er mit dem Anspruch, „die Wahrheit schlechthin“
zu vermitteln.114 Die Mängel des Buches liegen in einem klischeehaften Stil
und in der selektiven Auswahl der Personen, die zwar verschiedene Stände,
Berufe und Generationen, aber keineswegs die gesamte Bevölkerung ver-
treten: ein Adliger, ein Jesuit, ein Dichter und ein Offizier der Heimwehr;
die drei Erstgenannten sind Schüler des Jesuitengymnasiums Kalksburg bei
Wien.115 Da die von den einzelnen Gesprächspartnern artikulierten Stand-
punkte kaum voneinander abweichen, kann von einem echten Dialog nicht
die Rede sein. Dies verleiht dem Werk Züge einer Propagandaschrift.116
Ein weiteres Hauptwerk eines gleichsam kosmischen Ordnungsbegriffs
ist Karl Lugmayers 1945–1947 erschienenes Buch Sein und Erscheinung.117
Er hatte das Thema bereits 1924 aufgegriffen, als er erklärte: „Gott ist der
Schöpfer aller Gesetzmäßigkeit.“118 Später verwendete er mit „Ordnung“
108 v. andrian, Ständeordnung, 204.
109 schumacher, Leopold Andrian, 102 f.
110 v. andrian, Ständeordnung, 51.
111 dorowin, Retter, 126 f.; schumacher, Leopold Andrian, 106 f.
112 thun-hohenstein, Österreichische Lebensform, 18.
113 Prutsch/ZeyrinGer, Leopold von Andrian, 496; Inhaltsangabe bei dorowin, Retter, 94–97.
114 CS 28. 2. 1937, 190 f. (W. breitenfeld); dorowin, Retter, 92; schumacher, Leopold Andrian,
100.
115 Es galt als Ort der Heranbildung einer Art Anstaltselite; G. hartmann, Eliten, 224; stim-
mer, Eliten, 104–106.
116 Johnston, Der österreichische Mensch, 258 f.
117 K. luGmayer, Sein II, 347–360 (Zur Bedeutung der Geisteswissenschaften).
118 K. luGmayer, Linzer Programm, 7. 5. DER MENSCH IST
PERSON222
back to the
book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580