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Begründetes ist.193 Zum aristotelischen Naturrecht gehört selbst die Vor-
stellung der Überwindung der Natur durch die Kultur. Die wahre Natur,
so etwa Edmud Burke, sei die, in der ursprünglich angelegte Potenzialitä-
ten aktualisiert worden seien; aus dieser natürlichen Bestimmung des Men-
schen seien Hierarchie und Ungleichheit entstanden.194
Johann Peter Steffes erläuterte 1931 auf der Frühjahrstagung des Deut-
schen katholischen Akademikerverbands, das Naturrecht verwirkliche die
gottgewollte Ordnung.195 Im Umfeld der Französischen Revolution sei eine
durch den Nominalismus des ausgehenden Mittelalters vorbereitete Umdeu-
tung erfolgt, die aus dem Naturrecht das auf die Forderung des Augenblicks
zugeschnittene Naturgesetz gemacht habe. Das Naturrecht der Aufklärung
sei eine rein formale Größe gewesen, einzig der Begründung des politischen
Liberalismus dienend. Der Grundsatz „Wer die Macht hat, hat das Recht“
habe zu Rechtspositivismus, Relativismus und Pragmatismus geführt und
das Gefühl der Verantwortung vor der letzten Instanz zerstört.196 Nunmehr
sei aber das Versagen des positiven Rechts vielen Menschen bewusst gewor-
den, und es gebe ein neues Bedürfnis nach Metaphysik. Das christliche Na-
turrecht sei ein Recht der Konstanz; dem Wandel der Dinge trage das positive
Recht Rechnung, das folglich im Dienst des Naturrechts stehen müsse.197
Mit diesem nicht nach den Rechten, sondern nach dem Wesen des Men-
schen fragenden Naturrecht operierten Neuthomismus und Personalismus;
der Solidarismus hielt es für geeignet, sein ständisches Konzept zu unter-
mauern.198 Franz Martin Schindler199 und Johannes Messner200 setzten es
dem rechtspositivistischen Denken des Liberalismus entgegen. Der Glaube
an einen dem Menschen eingeschriebenen Willen Gottes als alleinige Grund-
lage von Recht und Gewalt201 lieferte ihnen Argumente gegen Sozialismus
und Liberalismus.202 Vom „modernen“, in der Tradition der Menschenrechte
193 Kondylis, Konservativismus, 63–69, 208 und 331–334.
194 Kondylis, Konservativismus, 263.
195 SZ 6. 9. 1931 (J. P. steffes).
196 SZ 13. 9. 1931 (J. P. steffes).
197 SZ 20. 9. 1931, 27. 9. 1931 (J. P. steffes); zur Unveränderlichkeit als Wesensmerkmal des
Naturrechts vgl. d. berGer, Aspekte, 433–435.
198 A. rauscher, Die soziale Natur, 35–37.
199 schindler, Lehrbuch III, 406 f. und 818; Klose, Berufsständische Ordnung, 201.
200 Johannes Messners 1949 erschienenes Hauptwerk, in dem er an Thomas von Aquin an-
knüpft, trägt den Titel Das Naturrecht. In der Kulturethik (1954) erklärte er, die Grundla-
gen eines sittlich verantworteten Zusammenlebens ließen sich durch vernünftige Interpre-
tation alltäglicher Erfahrungen finden; roos, Entstehung, 112; zum Gegensatz zwischen
Messner und Hans Kelsen Klenner, Der Januskopf, 24–27.
201 lacKner, Die Ideologie, 65.
202 anZenbacher, Christliche Sozialethik, 134 f. 5. DER MENSCH IST
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580