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eine tiefere Vertrautheit mit der Muttersprache und vermittelten Ideale jen-
seits des Utilitarismus.384 Forderungen nach Psychologisierung der Schule
im Zeichen des Individualismus wurde eine Absage erteilt: Sie führten zur
„Überwindung der Schule überhaupt“. Was man brauche, sei die „Bindung
an überpersönliche Werte […], aufblickend zu großen Urgedanken und Ur-
gestalten“.385 Dieses Bild von Schule teilten spätere konservativ-liberale
Intellektuelle, die sich, wie Wilhelm Röpke, auch gegen „pädagogische Ge-
schäftigkeit“ aussprachen und zu bedenken gaben, dass Lernen mit einfa-
chen Mitteln erfolge.386
Die Sozialdemokratie war diesem Ideal allerdings wenig geneigt, denn sie
hielt es für elitär. Dem von dieser Seite (Wiener „Schulbolschewismus“ des
1919/20 amtierenden Unterrichtsministers Otto Glöckel387) als vermeintlich
„sozialere“ Alternative in den Raum gestellten Begriff „Einheitsschule“ ver-
lieh Richard Meister, der darin eine „mechanische Gleichheitsschule“ sah388,
eine andere Bedeutung, nämlich die der organischen Einheit aller im Einzel-
nen hochdifferenzierten Zweige des Bildungswesens.389 Sehr wichtig waren
Meister die Beibehaltung des obligatorischen Lateinunterrichts und die Si-
cherung der Studierfähigkeit der Maturanten.390
Diese Gedanken legte er in seinem 1920 erschienenen Buch Die Bildungs-
werte der Antike und der Einheitsschulgedanke dar. 1921, damals außeror-
dentlicher Professor für Klassische Philologie an der Universität Wien, er-
suchte er das Unterrichtsministerium um Erweiterung seiner Lehrbefugnis
um die Pädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Bildungsaufgaben
der Antike, die zu allen Zeiten ein Thema der als Bildungslehre verstande-
nen Pädagogik sei. Was er wolle, sei keineswegs nur Methodik des altsprach-
lichen Unterrichts; er hob vielmehr seine enge Beziehung zur Philosophie
und zur Psychologie hervor.391 Seine Sorge galt nicht nur den Lehrplänen
für Latein und Griechisch, sondern er entwarf solche auch für Deutsch, Ge-
schichte und Philosophie.392 Philosophie habe die Aufgabe, den Blick des
384 SZ 3. 10. 1938 (H. römer).
385 NR 25. 6. 1927 (J. sPieler).
386 habermann, Das Maß, 192.
387 H. dachs, Schule, 208 f.; Grimm, Schulpolitik, 296–299; sorGo, Schulpolitik, 14–17; tálos,
Handbuch, 507 (E. lechner); tálos, Zum Herrschaftssystem, 157.
388 meister, Bildungswerte, 45.
389 meister, Bildungswerte, 5, 25, 29 und 51; vgl. breZinKa, Pädagogik, 320; KainZ, Hauptprob-
leme, 111; wallraf, Kultur, 153 f.
390 breZinKa, Pädagogik, 381.
391 breZinKa, Pädagogik, 374 f.
392 H. dachs, Schule, 365 f.; erben, Schule, 79; schretter, Das ideologische Nahverhältnis,
48–52. 5. DER MENSCH IST
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580