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erleichtere, während in der Masse stets „untergeistige Seiten“ des Menschen
wirkten: Die Gemeinschaft „appelliert ja an die geistige Person im Men-
schen“.476
Im Phänomen Masse gründete ein zentraler Aspekt der Demokratiekritik
der zwanziger Jahre: Ihre Anonymität sei die Folge des Individualismus.477
Für Heinrich Mataja war das Massengefühl „vervielfältigter Egoismus“; er
verglich die Masse mit einer Aktiengesellschaft, mit der es der Einzelne nur
so lange halte, wie er seine persönlichen Interessen gedeckt sehe. In der Ge-
meinschaft werde er hingegen, so im Gleichklang mit Rudolf Henz, in be-
reichernde Zusammenhänge eingegliedert, ohne dass seine Persönlichkeit
leiden müsse.478
1932 verfasste Otto Knapp eine Rezension von José Ortega y Gassets 1929
erschienenem Buch Aufstand der Massen. Er teilte dessen Ansicht, Masse
sei die Gesamtheit der wenig Qualifizierten und seelisch Trägen, die selbst-
zufrieden die vermeintlichen „Segnungen“ der auf Technik beruhenden Zi-
vilisation genieße; wegen des ihr innewohnenden Gewaltpotentials bedürfe
sie der Führung. Demgegenüber zeichne sich die Elite dadurch aus, dass sie
zu höherer, objektiver Norm aufblicke, das Leben als Zucht auffasse, der As-
kese huldige und Pflichten erfülle, ohne Rechte zu fordern.479
Richard Kerschagl, der mechanistische Systeme in der Wirtschaftswis-
senschaft ablehnte480, referierte – allerdings in Auseinandersetzung mit
dem italienischen Faschismus – eine Definition von Freiheit „im Sinne
wohlverstandener Eingliederung in den Dienst der Gesamtheit“.481 Leopold
Engelhart erhob das Verantwortungsbewusstsein zur zentralen Kategorie
gemeinschaftlichen Lebens; zumal bei Führungskräften trete es als das Be-
wusstsein der eigenen Verpflichtung gegenüber den ihnen anvertrauten Per-
sonen in Erscheinung.482
Auch hier nahmen die Theoretiker der Zwischenkriegszeit konservativ-li-
berale Standpunkte vorweg: Wilhelm Röpke sprach von „chaotischer Bezie-
hungslosigkeit“ und „sozialer Entwurzelung“ des in der Masse verlorenen In-
dividuums; in diesem Zustand liege die Ursache für den Hunger nach neuer
Integration und die Anfälligkeit für totalitäre Systeme.483 Die in seinen
Augen idealen Gemeinschaften, die Quellen menschlicher Tugenden, waren
476 härinG, Gesetz, 118–120; v. hildebrand, Memoiren, 315–317.
477 diamant, Katholiken, 183.
478 SZ 15. 7. 1934 (H. mataJa); venus, Rudolf Henz, 7; wöGerer, Innere Emigration, 30.
479 SZ 24. 4. 1932 (O. KnaPP).
480 B. dachs, Richard Kerschagl, 62–64.
481 KerschaGl, Die Quadragesimo anno, 10.
482 enGelhart, Führertum, 31–33.
483 habermann, Das Maß, 17–19 und 107–110.
5.5 PERSÖNLICHKEIT UND GEMEINSCHAFT 259
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580