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In anderen Fällen brachte Funder seine Wertvorstellungen an Wahrneh-
mungen aus dem Alltag zum Ausdruck. So berichtete er von einer Episode
aus dem Jahr 1919, als Maßnahmen gegen Seuchengefahr zu treffen waren;
hierbei habe sich Erzherzogin Maria Therese von Portugal, die Schwägerin
von Kaiser Franz Josef, bewährt, und er rechnete es dem sozialdemokrati-
schen Kanzler Karl Renner hoch an, dass er Sr. Michaela, so ihr Name als
Krankenschwester, trotz Habsburgergesetz mit „kaiserliche Hoheit“ titulier-
te.576 Victor Adler hielt er zugute, dass er bis zuletzt gegenüber Kaiser Karl
„die gute Form“ bewahrt habe.577 Diese Beispiele stehen für Formen des Re-
spekts vor Personen, die sich in der Gemeinschaft aufgrund eines Ethos be-
währten, unabhängig vom Buchstaben des Gesetzes.
Oswald Redlich erwies seinen Mitmenschen Respekt durch eine humane
Art als akademischer Lehrer und durch den Verzicht auf kämpferische,
scharf profilierte Thesen gegen Kollegen, denen er persönlich fern stand.578
Victor Franz Hess, Sohn des Waldmeisters eines steirischen Fürstenge-
schlechts, der Entdecker der kosmischen Strahlung und als solcher 1936
mit dem Nobelpreis ausgezeichnet579, forderte Respekt vor den Tieren: Eine
von insgesamt nur zwei Wortmeldungen, die von ihm aus dem BKR bekannt
sind, bestand in einem Einspruch gegen die leichtfertige Verwendung von
Tieren zu Forschungszwecken.580
Ludwig Adamovich thematisierte den Respekt im Diskurs über Demokra-
tie: Mehr noch als eine Form staatlicher Organisation sei diese „eine beson-
dere Denk- und Lebensform“; der Respekt vor dem Mitmenschen sei eine
ihrer geistigen Grundlagen.581
Derartige Äußerungen rufen das konservativ-liberale Bekenntnis zum
Tabu582 und die ebenfalls von dieser Seite ausgesprochene Mahnung vor ei-
nem Missbrauch der Pressefreiheit in Erinnerung: Ein solcher, so Wilhelm
Röpke, sei „eine Form moderner Zudringlichkeit und Indiskretion“, die viel
mit „absolutem Demokratismus jakobinischer“ Art zu tun habe.583
576 funder, Vom Gestern, 417.
577 funder, Vom Gestern, 452.
578 winKelbauer, Oswald Redlich, 401–403.
579 G. huemer, Viktor Franz Hess, 1.
580 G. huemer, Viktor Franz Hess, 98.
581 adamovich, Grundriss, 67.
582 habermann, Das Maß, 47.
583 habermann, Das Maß, 104. 5. DER MENSCH IST
PERSON270
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580