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zentral war: Die Städte seien Orte „der Ungerechtigkeit und des verstörten
Widersinns“ und „Festungen der Menschen, die sie gegen die Natur gebaut
haben“.448 Arthur Seyss-Inquart beschrieb den Unterschied zwischen Land
und Stadt als den zwischen einem Leben und Arbeiten nach den Gesetzen
der Natur oder gegen diese.449
Adolf Lenz nahm eine weitgehende Gleichsetzung von modernem und
städtischem Leben vor. Im mit „Kulturumwelt“ überschriebenen Kapitel
seines Lehrbuchs bewertete er die mit dem Stadtleben verbundenen Er-
scheinungen, wie familiäre Ungebundenheit des Unverheirateten, Konku-
binat, Egoismus, Verlust der Ideale und Gefahr der Verelendung, sehr ne-
gativ, während die in der Landwirtschaft Tätigen geschützter lebten: durch
größere Sesshaftigkeit und durch das Leben unter den Augen von Kirche
und Ortsobrigkeit.450 Hermann Peichl rief in Erinnerung, dass die biblische
Heilsverkündung mit dem Paradies, einem Garten, beginne und mit einer
Stadt ende. Zwar stehe auch das himmlische Jerusalem für Ordnung, aber
diese habe nicht denselben Rang.451
Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi sah Verständigungsprobleme
und mangelndes Vertrauen zwischen Stadt- und Landbewohnern, die er
grundlegend verschiedenen Mentalitäten zuschrieb: „Das Großstadtleben
ist abstrakt, mechanisch, rational – das Landleben konkret, organisch, irra-
tional.“452 Die Großstadt führe zur Atomisierung der Gesellschaft, löse Fami-
lien- und Heimatgefühl und zwinge das Individuum, stark und rücksichtslos
zu sein, um nicht unterzugehen.453
Hans Karl Zeßner-Spitzenberg riet seinen Hörern an der Hochschule für
Bodenkultur in Wien, künftigen Ingenieuren, die viel Kontakt mit Bauern
haben würden, etwas, das offensichtlich nicht mehr selbstverständlich war:
„Schauen Sie nicht von oben herab, mit städtischer Überlegenheit auf das
Landvolk und ihr (!) Brauchtum. Glauben Sie mir: In unserer ‚Stadtkultur’
ist sehr vieles hohl und eitler Trug. Eine ethische Wertung des ländlichen
Lebens wird uns seine herbe Kraft und seine gesunde Grundhaltung erken-
nen lassen und schützen lernen.“454
Auch dem um die bäuerliche Bildung sehr bemühten Leopold Teufels-
448 Zit. nach schmidt-denGler, Literatur, 641; vgl. JarKa, Zur Literatur- und Theaterpolitik,
529–532.
449 seyss-inQuart, Vier Jahre, 170 f.
450 lenZ, Grundriss, 103 f.
451 Peichl, Der Altar, 132.
452 coudenhove-KalerGi, Adel, 9–11.
453 coudenhove-KalerGi, Held, 113 f.
454 Zit. nach K. P. Zeßner-sPitZenberG, Hans Karl, 55. 6.
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580