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entsprechend galten Tätigkeiten in Erziehung, Unterricht, Pflege oder
Fürsorge. Anders als im nationalsozialistischen Deutschland, wo allein die
biologische Fortpflanzung zählte, wurde Mutterschaft in Österreich als see-
lisch-geistige Konstitution der Frau verstanden, die in Opferbereitschaft,
Duldung etc. zum Ausdruck komme716; zu Schlüsselbegriffen wurden „das
Pfleghafte“ und „Frauentum“.717 Hans Karl Zeßner-Spitzenberg verbrei-
tete derlei Gedanken 1918–1938 als ehrenamtlicher Dozent an der Sozialen
Frauenschule, in der Fürsorgerinnen herangebildet wurden.718 Leopold Figl
hielt zeit seines Lebens an der Idee der geistigen Mutterschaft fest.719
Eine wichtige Rolle wurde den Lehrerinnen beigemessen.720 Gleichwohl
erhielten sie in den dreißiger Jahren kein günstiges Dienstrecht.721 Im Sinn
der zuteilenden Gerechtigkeit722 (Kap. 5.4) lehnte etwa Franz Martin Schind-
ler die Forderung nach gleichem Lohn wie für den Mann ab, nicht aber die
nach „gerechtem“ Lohn.723 Josef Bick nannte auch den Bibliothekarsberuf
einen „dem weiblichen Wesen entsprechenden“. Selbst im Denken dieses
Mandatars, den sein beruflicher Alltag häufiger als andere mit Akademi-
kerinnen, wie es sie seit dem frühen 20. Jahrhundert – gerade in den Geis-
teswissenschaften – in wachsender Anzahl gab724, in Berührung brachte,
scheint eine gewisse Nähe von berufstätiger Frau und „Hilfskraft“ lange er-
halten geblieben zu sein.725
Sogar der die genannten Zeitgenossen an Weite des Horizonts fraglos
übertreffende Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi bedauerte, dass die
Wirtschaftslage die Frau zu außerhäuslicher Erwerbstätigkeit zwinge,
denn auch er war überzeugt: „Der Urberuf der Frau ist die Mutterschaft.“726
Auch er definierte weibliches Wesen vornehmlich über soziale Tätigkeiten,
er sprach sich allerdings dafür aus, dass sich Frauen, die über besondere
geistige Gaben verfügen, mit den Männern messen sollten.727 Die Forderung
716 Grafeneder, Arbeiterfamilie, 69 und 78–80; bandhauer-schöffmann, Männerstaat, 275–
259; Kirchmayr, Frauenpolitik, 26; ratZenböcK, Mutterliebe, 28.
717 H. dachs, Das Frauenbild, 89; ennsmann, Frauenpolitik, 59 und 164; JuffinGer, Politischer
Katholizismus, 88–90; schretter, Das ideologische Nahverhältnis, 87–90.
718 K. P. Zeßner-sPitZenberG, Hans Karl, 57; fux, Für Christus, 25.
719 fiGl, Ansichten, 180; vgl. ennsmann, Frauenpolitik, 8; Kirchmayr, Frauenpolitik, 29; tálos,
Handbuch, 282 (G. hauch).
720 ennsmann, Frauenpolitik, 197.
721 H. dachs, Das Frauenbild, 91–93.
722 schindler, Lehrbuch III, 797.
723 schindler, Lehrbuch III, 772.
724 tálos, Handbuch, 92 f. (W. heindl).
725 bicK, Bibliotheken, 106.
726 coudenhove-KalerGi, Held, 208.
727 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 123; coudenhove-KalerGi, Held, 200.
6.6 DIE FAMILIE 369
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580