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Bürger gegeneinander der Tauschgerechtigkeit.61 Die zuteilende Gerechtig-
keit meinte auch Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, der die Disziplin
des „Ordnungsstaates“ dem rechtsstaatlichen Prinzip entgegensetzte: „Dis-
ziplin ist mechanische Ordnung – Gerechtigkeit organische.“62 Die Befähi-
gung, zum Garanten der Gerechtigkeit zu werden, so Richard Meister, ver-
leihe dem Staat der Umstand, dass er von allen Gemeinschaften zwar die am
straffsten organisierte, aber die am meisten „zweckoffene“ sei, mehr noch als
Familie und Gemeinde; als „zweckgeschlossen“ bezeichnete Meister Vereine
oder Kammern.63
Spanns Vorstellung, der Staat habe nicht nur Vorhandenes zu ordnen,
sondern auch Wege zu bahnen64, wurde von den katholisch-konservativen
Denkern zurückhaltender artikuliert. Richard Schmitz nannte ihn mit Blick
auf die berufsständische Ordnung „Gärtner, Baumeister und Arzt zugleich“:
Er müsse „Samenkörner streuen, wo es noch nichts gibt, weiterarbeiten, wo
schon Ansätze da sind, und mutig hineinschneiden, wo es Wildwuchs gibt“.
Seien die Stände einst verwirklicht, solle sich der Staat so rasch wie möglich
auf die Funktion einer Aufsichtsbehörde zurückziehen.65 Ähnlich argumen-
tierte der konservative Liberalismus nach 1945. Wilhelm Röpke verglich die
Aufgabe des Staates mit der Regelung des Verkehrs: Wohin ein jeder fahren
wolle, müsse diesem selbst überlassen werden, und er stellte fest, ein starker
Staat kenne keine „Vielgeschäftigkeit“, sondern halte sich von den ihm nicht
zukommenden Bereichen fern.66
Zu den Details äußerte sich Odo Neustädter-Stürmer: Die Staatshoheit
müsse die Domäne des von den Strömungen des Tages unabhängigen Be-
rufsbeamtentums sein; auf die Wirtschaft sollten nur jene Zugriff haben, die
in ihr lebten; dasselbe gelte für die kulturelle Verwaltung, die dem Geist
Raum zur Entfaltung geben müsse.67 Oskar von Hohenbruck bezeichnete
den Staat als die höchste Autorität in Dingen, die nicht an einen bestimm-
ten Stand gebunden sind, nämlich Kultur, Kunst, Wissenschaft, Sicherheit,
Freiheit. Die Stände hätten an diesen Bereichen ein jeweils unterschiedli-
ches Interesse.68 Johann Stigleitner äußerte sich zu Fragen des Steuerwe-
sens: So wie der Staat nicht eine Einrichtung für den Einzelnen, sondern
61 hohenlohe, Ständestaat, 10 f.; vgl. auch Kustatscher, Virtus, 379.
62 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 25 f.
63 meister, Das Verhältnis, 45; meister, Das staatsrechtliche Problem, 32.
64 heinrich, Schlüsselbegriffe, 355–357; LK, 520 (F. romiG); wohnout, Verfassungstheorie,
15.
65 SZ 17. 6. 1934 (R. schmitZ).
66 habermann, Das Maß, 96–99.
67 neustädter-stürmer, Ständestaat, 5 f.
68 v. hohenbrucK, Zur Frage, 25.
8. 2 WESEN, AUFGABEN UND GRENZEN DES STAATES, VERHÄLTNIS ZU DEN STÄNDEN 493
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580