Seite - 15 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 15 -
Text der Seite - 15 -
und publizistischen Diskursen, der hohen und trivialen Literatur ebenso wie
aus der Fernsehwerbung, aus Boulevard-Magazinen oder aus Comic-Heften),
entfremdet daraus einzelne Elemente orthografisch, syntaktisch, semantisch
und/oder phonetisch, um deren konventionelle Bedeutungen in Frage zu stellen
und damit den scheinbar natürlichen Zusammenhang von Zeichen und Be-
zeichnetem zu durchbrechen. Auf diese Weise soll der Konstruktionscharakter
gesellschaftspolitischer und medialer Diskurse entlarvt werden. Die Auswahl
bestimmter Sprachgebrauchsformen ist in Jelinek-Texten demnach bereits als
Inhalt zu lesen, deren destruktive Verzerrung als Ausdruck der ironischen Kon-
trafraktur.
In diesem Sinne geht Jelinek nicht nur destruierend (zerstörend), sondern auch
dekonstruierend (zerlegend, auflösend) vor –, aber eben nicht immer. Tatsächlich
schwankt ihr Umgang mit Mythen zwischen destruierenden und dekonstruktie-
renden Verfahren ; dementsprechend finden sich in der Literatur auch beide Be-
griffe in inkohärenter Verwendung wieder.14 Der Dekonstruktionsbegriff impli-
ziert dabei eine weitaus analytischere Vorgehensweise als der Destruktionsbegriff,
denn bei der Dekonstruktion werden sprachlich und symbolisch konstituierte
Mythen Schicht für Schicht abgetragen und auf diese Weise die dahinter stecken-
den Intentionen offengelegt. In Jelineks Texten sind die Übergänge zwischen dem
destruierenden und dem dekonstruierenden Schreiben fließend. Da jedoch auch
das Dekonstruieren die Zerschlagung und Zerstörung von Mythen bezweckt
(»Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, damit kein Gras mehr wächst, wo
meine Figuren hingetreten sind«15), wird die terminologische Treffsicherheit des
Destruktionsbegriffs hier als etwas umfassender begriffen, weshalb in der vorlie-
genden Untersuchung in erster Linie mit diesem Begriff hantiert wird.
Zur exemplarischen Interpretation ausgewählt wurden das Skandalstück
»Burg theater« aus dem Jahr 1984, welches das Politikum vorgeblich unpoliti-
schen Künstlertums thematisiert und Jelineks Ruf als »Nestbeschmutzerin«
begründete ; weiters der große Gespensterroman »Die Kinder der Toten« aus
dem Jahr 1995, den die Autorin zwar als ihr »wichtigstes Werk«16 bezeichnet
hatte, der aufgrund seines Umfangs und seiner Komplexität bisher aber kaum
interpretiert, wahrscheinlich auch wenig gelesen wurde ; und schließlich eine
kleine, aber wortgewaltige Theatersatire aus dem österreichischen »Wendejahr«
2000 mit dem Titel »Das Lebewohl« – einer der Höhepunkte der jahrelangen
öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Elfriede Jelinek und Österreichs be-
kanntestem Rechtspopulisten Jörg Haider.
14 Vgl. Degner, Mythendekonstruktion, S. 45.
15 Jelinek, Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, S. 14.
16 Jelinek, zitiert nach : profil, Nr. 42, 2004, S. 125. 15
Inhalte und Ziele |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319