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Heutige Definitionen richten sich zumeist nicht an einem statischen Merk-
malskatalog aus, sondern vergleichen die verschiedenen, zum Teil ambivalenten
realhistorischen Wege des Faschismus.39 Sie lenken den Blick auf die sozialen
und kulturellen Praktiken : die Organisationsformen, Rituale und Feiern so-
wie Ästhetiken, vom Führerkult bis hin zu den in Szene gesetzten Massen-
versammlungen. Der Faschismusbegriff ist damit ein ganzes Stück flexibler
geworden – er ist prozessual ausgerichtet und will das Entwicklungspotential
und die Wandelbarkeit des faschistischen Phänomens erfassen.40 Nicht zuletzt
haben die Ereignisse der 1990er Jahre mit dem Ende der Sowjetunion und der
kommunistischen Regime in Europa den Blick zurück auf die Geschichte des
20. Jahrhunderts verändert.41
Doch zurück zum Anfang : Faschismustheorien gibt es ebenso lange, wie es
den Faschismus selbst gibt : Mit dem Akt der Angelobung Mussolinis als Chef
einer von der »Nationalen Faschistischen Partei« (ital. »Partito Nazionale Fas-
cista«) geführten Minderheitsregierung in Italien am 28.
Oktober 1922 gelangte
der Faschismus erstmals zu staatlicher Macht.42 Parallel zum Aufstieg des »Fas-
cismo« setzte in den 1920er Jahren eine von Italien ausgehende Publikations-
welle theoretischer Auseinandersetzungen mit dem faschistischen Phänomen
ein, die im deutschsprachigen Raum mit einiger Verspätung rezipiert wurde.43
Die Weltanschauung und die politische Ausrichtung der national-faschistischen
Partei Mussolinis wurden in diesen frühen Definitionsversuchen als charakteris-
tisch auch für andere faschistische Bewegungen in Europa betrachtet.44
In Anlehnung an das Gros der herangezogenen Autoren, auch neuester
Stu dien, wird der deutsch-österreichische Nationalsozialismus (1933/38 bis
39 Vgl. Reichardt, Neue Wege, S. 25.
40 Vgl. ebd., S. 18 f.
41 Vgl. Gentile, Eine Definition zur Orientierung, S. 81. – Interessant ist, dass Gentile hier vom
»weltweiten« Niedergang des Kommunismus schreibt und damit Staaten wie China, Nordkorea
oder Kuba außen vor lässt.
42 Vgl. Wippermann, Faschismustheorien, S. 1. Bemerkenswert ist nach Wippermann vor allem
der Umstand, dass »Mussolinis Partei nur über ganze 35 von 500 Sitzen im italienischen Parla-
ment verfügte«.
43 Vgl. Wippermann, Faschismustheorien, S. 7.
44 Dazu werden üblicherweise folgende gezählt : die »British Union of Fascists« (1932 bis 1940) in
Großbritannien, die von José Antonio Primo de Rivera in Spanien geführte »Falange Española
de las Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista« (1933 bis 1937), die »Ustascha« (»Die Auf-
ständischen«) in Kroatien (1929 bis 1945), die »Garda de Fier« (»Eiserne Garde«) in Rumänien
(1927 bis 1944) und die »Nemzeti Akarat Partja« (»Pfeilkreuzler«) in Ungarn (1935 bis 1945).
Vgl. Payne, Geschichte des Faschismus, S. 356–435. Ergänzt werden könnte diese Aufzählung
noch mit der »Action Française«, die aber bereits 1898 gegründet worden war.
24 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319