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Dennoch dĂĽrfen die Leistungen vorangegangener Generationen von Faschis-
musforschern nicht unterschätzt werden. Ernst Nolte etwa, der sich in den
1980er Jahren im Rahmen des von ihm ausgelösten »Historikerstreits«52 erheb-
liche Kritik zuzog, war in den 1960er Jahren immerhin der erste deutschspra-
chige Historiker ohne marxistischen Hintergrund gewesen, der den Faschis-
mus begriff genutzt hatte. Mit seinen Studien hatte er wesentlich zur Legitimität
eines allgemeinen Faschismusbegriffs beigetragen.53 Auch wenn die von ihm
vorgenommene Epochisierung von späteren Forschungen verworfen wurde und
auch seine »phänomenologische Methode«54, die den Faschismus auf Basis sei-
ner Selbstäußerungen zu definieren sucht, heute als eindimensional gilt, so muss
doch festgehalten werden, dass namhafte Studien der letzten beiden Dekaden
Noltes Ansätze in neuere, differenziertere Modelle integrieren : So schließen
einige nicht nur an sein generisches Modell an, das die ideologischen Gemein-
samkeiten faschistischer Bewegungen betont55, sondern beziehen auch die
Selbstbeschreibungen und -repräsentationen der Faschisten mit ein.56
Zu Noltes Verdiensten zählt außerdem, dass er einer der Ersten war, die auf
die Ambivalenzen des Faschismus hinwiesen – Ambivalenzen, die sich in der
paradoxen Ausbildung einer Ideologie äußerten, die dem Kommunismus ebenso
radikal entgegengesetzt wurde, wie sie auch zu ihm benachbart war, zudem in
der Anwendung nahezu identischer wie auch charakteristisch umgeprägter Me-
thoden.57
Die Gemeinsamkeiten faschistischer und realsozialistischer Regime sollten
in den USA und Westeuropa nach 1945 anhand von »Totalitarismustheorien«58
erklärt werden, welche die Wesensähnlichkeiten von Faschismus und Kommu-
nismus zu beschreiben versuchten, deren grundsätzliche ideologische Differen-
52 Nolte hatte die nationalsozialistischen »Rassenmorde« mit den »Klassenmorden« in den bol-
schewistischen Gulags verglichen. Er hatte damit die historische Singularität des Holocaust in
Frage gestellt, was ihm u. a Jürgen Habermas als »Revisionismus« ankreidete. Vgl. dazu Geiss,
Die Habermas-Kontroverse ; Herbert, Der Historikerstreit ; Wippermann, Umstrittene Ver-
gangenheit ; Diner, Ist der Nationalsozialismus Geschichte ? ; KĂĽhnl, Vergangenheit, die nicht
vergeht ; Nolte, Das Vergehen der Vergangenheit usw.
53 Vgl. Kühnl, Faschismustheorien, S. 160.
54 Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, S. 53.
55 Vertreter der generischen Theorie sind u. a Ernst Nolte, Stanley Payne, George Mosse, Roger
Griffin, Roger Eatwell und Richard Thurlow.
56 Zum Beispiel bei Griffin, The Nature of Fascism.
57 Vgl. Nolte, Epoche des Faschismus, S. 49–58. Vgl. dazu auch Reichardt, Neue Wege, S. 18.
58 Vgl. dazu den Pioniertext von Hannah Arendt : Elemente und UrsprĂĽnge totaler Herrschaft.
Arendt vergleicht darin Stalinismus und Nationalsozialismus und bezeichnet sie sogar als »Va-
riationen des gleichen Modells« (vgl. ebd., S. 640).
26 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319