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versen Jelinek-Texten wieder, wie etwa in dem empirischen Kapitel über den
Bühnentext »Das Lebewohl« ausgeführt werden wird. Auf geschichtswissen-
schaftlicher Ebene muss Wippermanns Beschreibung eines realtypischen
Faschis musbegriffs jedoch als überholt gesehen werden. Wippermann selbst
ergänzte sein Modell in einer jüngeren Veröffentlichung mit dem Hinweis auf
»multikausale Faschismustheorien mittlerer Reichweite«67 : Demnach können
mit Modernisierungstheorien die Voraussetzungen, mit sozialen/sozialpsycho-
logischen Thesen die Anziehungskraft auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen
und mit Bonapartismustheorien die Machtergreifung und -festigung erklärt
werden.68 Wippermanns theoretischer Ansatz erscheint damit auf den ersten
Blick relativ umfassend ; doch lässt er auch erahnen, dass der prozessuale und
ambivalente Charakter faschistischer Bewegungen und Regime auf diese Weise
schwer zu fassen ist. Kollegen bemängelten die methodischen Schwächen des
Wippermannschen Faschismusbegriffs, der die Erkenntnisse der letzten beiden
Dekaden historischer Forschung ignoriere.69
Auch der Konstanzer Historiker und Faschismusexperte Sven Reichardt kri-
tisierte in seinem Editorial der Zeitschrift »Mittelweg 36«70 vom Jänner 2007,
dass renommierte Forscher wie Wolfgang Wippermann, George
Mosse, Stanley
Payne oder Wolfgang Schieder zwar bis in die 1990er Jahre hinein wichtige und
viel beachtete Beiträge publizierten71, die Probleme der tradierten Faschismus-
forschung der 1970er Jahre dabei aber nicht überwinden konnten. Reichardt be-
klagt gar den »Niedergang der vergleichenden Faschismusforschung«72 seit den
1980er Jahren. Den »Scherbenhaufen«73 vergleichender und theoriegeleiteter
Faschismusforschung gesteht auch Wippermann rückblickend ein und macht
nicht zuletzt den von Ernst Nolte 1986 in Gang gesetzten »Historikerstreit«
dafür verantwortlich.74
Reichardts Lamento fokussiert in erster Linie auf den deutschsprachigen
Raum : Die häufig ökonomistisch verengten und vergleichsarmen Interpreta-
tionen deutschsprachiger Wissenschafter, welche die Faschismustheorie fast
ausschließlich am Beispiel des Nationalsozialismus zu exemplifizieren suchten,
67 Wippermann, Hat es Faschismus überhaupt gegeben, S. 64.
68 Vgl. ebd., S. 64 f.
69 Vgl. etwa die Beiträge von Friedrich Pohlmann, Karin Priester und Achim Siegel in demselben
Band.
70 Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung ; erscheint zweimonatlich.
71 Es handelt sich um Beiträge, die, mit einigen Ergänzungen und Kommentaren versehen, zum
Teil auch nach der Jahrtausendwende noch neu aufgelegt wurden.
72 Reichardt, Neue Wege, S. 9.
73 Wippermann, Faschismustheorien, S. 9.
74 Vgl. ebd., S. 8 f.
28 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319