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den er »Fascist Minimum«87 nennt. Auch wenn neue AnsÀtze versuchen, den
prozessualen Charakter des Faschismus besser zu erfassen, muss doch einge-
rÀumt werden, dass es eine Notwendigkeit der wissenschaftlichen Praxis bleibt,
den Kern des Untersuchungsobjekts idealtypisch benennen zu können.88 Was
Reichardt zufolge in Griffins Modell zu kurz kommt, sind die institutionellen
Strukturen, der organisatorische Aufbau, die soziale Basis und die sozioökono-
mischen Funktionen des Faschismus.89 Nach Griffin ist Faschismus »a genus of
political ideology whose mythic core in its various permutation is a palingenetic
form of populist ultra nationalism«90.
Diese Definition greift insgesamt zu kurz, resĂŒmiert Sven Reichardt, denn sie
»schlieĂt wichtige Merkmale wie den Massenappeal, die charismatische FĂŒh-
rerschaft, den Korporativismus oder ökonomische TriebkrÀfte aus«91. Auch der
US-amerikanische Historiker Robert O. Paxton bemÀngelt die Statik des »fa-
schistischen Minimums«.92
Eine auf die ideologischen Aspekte fokussierte Verortung des Begriffs er-
scheint schon alleine deshalb problematisch, weil sich die nationalen AusprÀ-
gungen europÀischer Faschismen jeweils sehr unterschiedlich darstellten und
deren Ideen tatsÀchlich »flexibel genug« waren, um »je nach machtpolitischer
OpportunitÀt ⊠aktualisiert und verÀndert werden zu können«93. Auch der
amerikanische Soziologe Michael Mann wendet sich gegen die generische The-
orie, denn es sei schlieĂlich einer der wesentlichen Aspekte des Faschismus, dass
er kein einheitliches ideologisches Konzept war und hatte :
»⊠unlinke socialism (which has Marxism), fascism contains no systematic theory.«94
Mann hÀlt in Bezug auf faschistische Systeme den Begriff »Weltanschauung«
fĂŒr passender und zutreffender als »Ideologie«.95 Selbst Emilio Gentile â Ver-
87 Griffin, The Nature of Fascism, S. 38.
88 Vgl. Reichardt, Neue Wege, S. 18 f.
89 Vgl. Reichardt, Neue Wege, S. 12.
90 Griffin, The Nature of Fascism, S. 44. Der Begriff der »Palingenese« geht auf Emilio Gentile
zurĂŒck : Er bezeichnet die (konter-)revolutionĂ€re Idee einer »nationalen Wiedergeburt«, die
ein zentrales Element der generischen Theorie darstellt. Vgl. Gentile, Le Origini dellâIdeologia
Fascista. Gentile selbst beschrieb den italienischen Faschismus sowohl als »politische Religion«,
die den Glauben an die Nation, den Duce und die Partei einforderte, als auch als militÀrischen
und revolutionĂ€ren Totalitarismus. Vgl. Gentile, Fascismo, S. 63â68.
91 Reichardt, Neue Wege, S. 13.
92 Vgl. Paxton, Die fĂŒnf Stadien des Faschismus, S. 65.
93 Reichardt, Neue Wege, S. 15.
94 Mann, Fascists, S. 10.
95 Vgl. ebd. 31
Diskussion der zentralen Begriffeâ |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319