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Der Holocaust, die Shoah, wird als Fluchtpunkt der europäischen und nicht
mehr nur der deutsch-österreichischen Geschichte betrachtet.122
Die Beschäftigung mit dem Angriffskrieg und der rassistisch begründeten
Menschenvernichtung der Nationalsozialisten führt unwillkürlich immer zu der
großen Frage nach dem Warum, die der Historiker Dan Diner, der in den spä-
ten 1980er Jahren den Begriff des »Zivilisationsbruchs«123 geprägt hatte, zu der
anthropologisch angeleiteten Frage nach dem Wie weiterspinnt (»Wie konnten
Menschen anderen Menschen derartiges Leid zufügen … ?«124). Um mögliche
Antworten auf diese Frage zu finden, ist es sinnvoll und notwendig, sich einzelne
Fallbeispiele zu vergegenwärtigen, konkrete »Lebenswelten«125 zu rekonstruie-
ren und deren Vielfältigkeit und Dynamik zu akzeptieren. Möglich wird dies
etwa anhand der Analyse so genannter »Ego-Dokumente«126 oder auch Oral
History-Interviews :
»Lebensgeschichtliche Interviews machen ganz allgemein sichtbar, wie die national-sozi-
alistischen Angebote in die privaten, persönlichen Bedürfnis- und Gefühlslagen eingebaut
wurden… Ihre Brisanz bekommen sie, weil es in einem totalitären System, das alles bis aufs
letzte politisierte, keine sozusagen sauberen, unschuldigen Handlungsfelder gibt.«127
Bei der Beschäftigung mit lebensgeschichtlichen Quellen, aber auch im Rah-
men von alltags- oder mikrohistorischen Studien wird deutlich, dass die
scheinbar eindeutigen Kategorien von »Opfer-« und »Täterschaft« innerhalb
individueller Biografien wechseln oder sich überlagern konnten : »Mitmachen,
Hinnehmen und gelegentliches Widerstehen lagen … im Gemenge.«128 Die
Zurkenntnisnahme und Beschreibung dieser (partiellen) »Teilnahme der Vie-
len«129, die in der historischen Literatur auch als »(Selbst-)Mobilisierung ›von
unten‹«130 oder als »Selbst-Dynamisierung der Vielen«131 bezeichnet wird, stellt
einen wichtigen Perspektivenwechsel in der Nationalsozialismusforschung dar,
122 Vgl. ebd., S. 8 f.
123 Diner, Dan (Hg.) : Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main : Fischer
1988.
124 Ders., Den Zivilisationsbruch erinnern, S. 18.
125 Zu dem historischen Begriff der »Lebenswelt(en)« vgl. Welz, Kritik der Lebenswelt. Etwas
komprimierter bei : Gabriel, Lebenswelt und Handeln, S. 37–56.
126 Zu »Ego-Dokumenten« vgl. die Erläuterungen von : Lüdtke, Macht der Emotionen, S.
49–52.
127 Bauer, Mobilisierung, S. 291.
128 Langthaler, Die tägliche Mobilisierung, S. 195.
129 Lüdtke, Macht der Emotionen, S. 54.
130 Langthaler, Die tägliche Mobilisierung, S. 190.
131 Lüdtke, Macht der Emotionen, S. 54. 37
Diskussion der zentralen Begriffe |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319