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und »Demokratisierung« prägten eine politische Reformphase, in deren Kontext
auch eine »partielle Transformation des Geschichtsbewusstseins«222 stattfand.
Die Politisierung der studentischen Jugend (die sich etwa in der Borodajke-
wycz-Affäre223 äußerte) und das Entstehen eines neuen Typs von kritischem
Journalismus trugen dazu bei, die Rahmenbedingungen des österreichischen
Geschichtsbewusstseins langfristig zu verändern. In den innerösterreichischen
Gedächtnisdiskursen begannen sich Wandlungsprozesse abzuzeichnen.224
Seit der Debatte um die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims 1986/87225
wird schlieĂźlich der geschichtswissenschaftliche Diskurs von Neubewertungen
der Jahre 1938 und 1945 bestimmt, welche die Opfertheorie als nationalen My-
thos definieren und den Umgang der Zweiten Republik mit dem »Zivilisations-
bruch Auschwitz«226 als mangelhaft beschreiben. Als Gradmesser dafür werden
das AusmaĂź der Umsetzung von Entnazifizierung und Elitenaustausch, die ma-
terielle und finanzielle Entschädigung der Opfer, aber auch die Gestaltung der
Erinnerungskultur herangezogen.227
Der Paradigmenwechsel im geschichtswissenschaftlichen Diskurs wider-
spiegelt aber auch eine Trendwende in der öffentlichen Debatte. In den Jahren
1986 bis 1988 seien »konträre politische, generationsspezifische und geschichts-
politische Sichtweisen und Milieus«228 so offen und heftig aufeinandergeprallt
wie niemals zuvor oder danach in der Zweiten Republik, schreibt Gerhard
Botz. Auch Michael Gehler meint, dass die Waldheim-Affäre vermutlich »die
schwerste Krise für das staatliche Selbstverständnis Österreichs seit 1955«229
dargestellt habe.
Diese Krise sollte nicht ohne Folgen bleiben, sondern fĂĽhrte schlieĂźlich zu
einer (teilweisen) Neuinterpretation der »Selbst- und Fremdbilder Österreichs
im Spiegel seiner NS-Vergangenheit«230. Zum einen hatte die Waldheim-Affäre
die Legitimität des Opfermythos erstmals entscheidend in Frage gestellt, zum
222 Ebd., S. 25.
223 Deutschnationale und antisemitische Äußerungen des Universitäts-Professors Taras Boroda-
jkewycz hatten Demonstrationen von Anhängern und Gegnern ausgelöst, bei denen im April
1965 ein Demonstrant getötet wurde. Vgl. ebd., S. 25 f.
224 Vgl. ebd.
225 Zur Waldheim-Debatte vgl. Heindl, Wir Österreicher sind ein anständiges Volk. Vgl. auch
Göllner, Die politischen Diskurse zu »Entnazifizierung«, »Causa Waldheim«, und »EU-Sank-
tionen«, S. 247–400.
226 Uhl, Das »erste Opfer«, S.Â
19 sowie S.Â
30. Mit dieser Ausdrucksweise lehnt sich Uhl ihrerseits
an Dan Diner an : Diner, Zivilisationsbruch. Vgl. auch Diner, Den Zivilisationsbruch erinnern.
227 Vgl. Bergmann/Erb/Lichtblau, Schwieriges Erbe, S. 12.
228 Botz, Nachhall und Modifikationen, S. 583.
229 Gehler, Politische Affären, S. 664.
230 Botz, Nachhall und Modifikationen, S. 584.
50 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319