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interpretiert werden können, denn Wiedergutmachung können sie allenfalls in
materieller Hinsicht leisten. So wurden drei große Fonds zur Entschädigung
der Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet und 1998 eine Historikerkom-
mission berufen, die den Vermögensentzug im Rahmen der Arisierungen erfor-
schen sollte, um dementsprechende Entschädigungszahlungen anregen zu kön-
nen.249 Neben Versuchen der materiellen Entschädigung fand die veränderte
Sichtweise aber auch in der symbolischen Repräsentation ihren Niederschlag,
etwa in der Einrichtung des NS-Opfer-Gedenktages am 5. Mai oder Denkma-
linitiativen für die Opfer.250
Auf Basis einer neuen politischen Selbstdefinition der Zweiten Republik und
begünstigt durch das Nachwachsen unbelasteter Generationen könnte es heute
zu einer systematischen öffentlichen Auseinandersetzung mit der NS-Ge-
schichte kommen.251 Jüngste innenpolitische Entwicklungen geben allerdings
zu befürchten, dass diese Leistung in den kommenden Jahren nicht in dem
wünschenswerten Ausmaß erbracht werden wird, weil eine
– durch die seit 2015
vermehrt nach Europa kommenden Kriegs- und Krisenflüchtlinge aus (vor al-
lem) Syrien, Irak und Afghanistan begünstigte – rechtspopulistische Welle das
Interesse sowie die erforderliche Sensibilität im Umgang mit diesem Thema
hinwegzuspülen scheint.
Die Rekonstruktion der österreichischen Zeitgeschichte im Sinne einer Ent-
larvung des Opfermythos ist eines der zentralen Anliegen, das Elfriede Jelinek
mit ihrem literarischen Werk verfolgt. In Hinblick auf die Interpretation ihrer
Texte soll an dieser Stelle noch einmal die Erkenntnis herausgestrichen wer-
den, dass das individuelle Gedächtnis nicht unabhängig vom Kollektivgedächt-
nis arbeitet und dass es keine unabhängige, neutrale Geschichtsschreibung gibt.
Vielmehr ist diese immer in Abhängigkeit von interessegebundenen Interpreta-
tionen zu lesen :
»Die Vergangenheit spricht nicht aus sich selbst heraus. Sie lehrt nichts, was wir, die wir
aus der Gegenwart auf sie zurückblicken, aus ihr nicht lernen wollen. Die historischen
Ereignisse haben als solche keine Bedeutung. Sinn erhalten sie von den Interessen,
Wertigkeiten, Zielsetzungen derer, die ihre Rekonstruktion betreiben.«252
249 Vgl. Botz, Nachhall und Modifikationen, S. 602–608 (zu den Entschädigungsfonds) sowie
S. 608–612 (zu den Historikerkommissionen).
250 Als Beispiel sei hier die Wiedererrichtung der Grazer Synagoge genannt. Vgl. Uhl, Das »erste
Opfer«, S. 28.
251 Vgl. Bergmann/Erb/Lichtblau, Schwieriges Erbe, S. 11.
252 Ziegler/Kannonier-Finster, Österreichisches Gedächtnis, S. 73.
54 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319