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»… Papi. Wo ist das Wort, das ich vorhin gefunden und jetzt wieder verlegt habe ? Du
hast manchmal geredet wie ein Jud. Keine Angst vor dir, das heißt, meine Angst vor dir
nicht absolut, sondern daß du nicht daß du nicht daß du nicht geredet hast. Manchmal
wochenlang. (…) Papi. Du sollst jetzt bitte auftreten und mir einen Vorwurf machen.
Aber du kannst dich mir ja schließlich nicht nachtragen ! Da warst du und ich hab dich
nicht gesehen. (…) Ich bin ein Beispiel dafür, daß die Schuldigen am Leben bleiben, hier
in meiner Nähe passiert ihnen nichts. Ich bin allerdings die einzige in meiner Nähe.«300
Mutter Ilona hingegen nimmt bis zuletzt lebhaften Anteil am Leben der Toch-
ter, kocht, putzt, nimmt Anrufe entgegen, kopiert Manuskripte und bewirtet
Elfriedes Gäste.301 Die Beziehung zur Mutter ist
– so die Legende
– eine »Hass-
liebe«302, die von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt ist. Nichtsdestotrotz veröf-
fentlicht Elfriede ein Buch ums andere.303
Die Uraufführung des »Burg theater«-Stücks 1984 in Bonn ruft einen öster-
reichweiten Theaterskandal hervor und begründet ihren Ruf als »Nestbeschmut-
zerin«, da sie in dem Stück an dem bis dahin tradierten Opfermythos rührt.304
In Deutschland reagiert man anders. 1986 erhält Elfriede als erste Frau den
Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln. Mit ihrer Dankesrede »In den Waldheimen
und auf den Haidern« leistet sie einen kritischen Beitrag zur Waldheim-Debatte,
was ihr in vielen Medien eine pauschale Verurteilung als Autorin einbringt : Je-
lineks Literatur sei »Gespeibsel«305, schreibt etwa ein Redakteur im »Kurier«, und
die Preisrede in Köln nur als »infame Österreichbeschimpfung«306 zu bezeichnen.
Trotz ihrer starken Angstzustände macht Elfriede immer wieder den Schritt
in die Öffentlichkeit, scheut sich nicht davor, offen auf Konfrontation mit Poli-
tik und Medien zu gehen. Im Juni 1987 stellt sie sich im Rahmen einer Mahn-
wache vor das O5-Zeichen307 am Wiener Stephansdom und verteilt Flugzettel
mit der Aufschrift :
300 Vgl. ebd., S. 184 ff. Der ganze Monolog geht bis S. 188.
301 Vgl. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 111.
302 Ebd., S. 129.
303 Etwa die Romane »Lust« (1989), »Gier« (2000) und »Neid« (2008), den großen Roman »Die
Kinder der Toten« (1995), aber auch Theaterstücke (z. B. »Clara S.«, 1981, »Krankheit oder
Moderne Frauen«, 1987, »Raststätte«, 1994, »Ein Sportstück«, 1998, »In den Alpen«, 2002,
»Das Werk«, 2003) und etliche Essays.
304 Vgl. Kapitel 3.1 dieser Studie.
305 Leitner in seiner Kolumne »Menschlich gesehen«. In : »Kurier«, 12.12.1986. Faksimile abge-
druckt in : Janke, Nestbeschmutzerin, S. 56.
306 Ders.in : »Kurier«, 23.12.1986. Faksimile abgedruckt in : Janke, Nestbeschmutzerin, S. 59.
307 O5 = Kürzel für die wichtigste österreichische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozia-
lismus.
62 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319