Seite - 68 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 68 -
Text der Seite - 68 -
mit den Werten und Traditionen der Eltern in Konflikt sah (jener Generation,
die in den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg involviert gewesen
war). In Österreich fiel die Rebellion – verglichen mit den turbulenten, aufse-
henerregenden und tragischen Ereignissen in den USA, in Frankreich oder in
Deutschland – gemäßigt aus.338 So wird die österreichische 1968er-Bewegung
in Historie und Medien gerne als »Mailüfterl«339, als »heiße Viertelstunde«340
oder als »zahme Revolution«341 bezeichnet. Dennoch haben die Ereignisse der
ausgehenden 1960er Jahre die österreichische Gesellschaft stärker und schneller
verändert als zu anderen Zeiten.342
Hierzulande war es vor allem eine Revolte der Künstler, die (in homöopati-
schen Dosen343) zu nachhaltigen Veränderungen in den alltäglichen »Lebens-
welten«344 führte. Aktionskünstler wie Hermann Nitsch, Günter Brus oder Otto
Muehl veranstalteten provokative »Happenings«, in denen sie den Körper selbst
zum Ausdrucksmittel einer radikalen Gesellschaftskritik machten.345 Es wur-
den »Exzesse inszeniert und Ekelschranken durchbrochen, wurde mit Blut, Kot,
Urin am nackten Körper experimentiert, öffentlich onaniert, enttabuisiert, pro-
voziert«346 – und nicht selten dafür Geld- und Freiheitsstrafen in Kauf genom-
men. Das von Künstlern und dem VSSTÖ347 gemeinsam organisierte Teach-in
»Kunst und Revolution«, das medial zur »Uni-Ferkelei« hochstilisiert wurde, gilt
heute vielen noch als Sinnbild eines österreichischen »1968«.348 Im Bereich der
Literatur sorgten vor allem die Autoren der Wiener und der Grazer Gruppe, in
deren Umfeld sich in späteren Jahren auch Elfriede Jelinek bewegte, für neue
Impulse.349
338 Vgl. Hiebl, Lebenswelt(en) der 68er in Salzburg, S. 299.
339 Zitiert nach Bauer, Das 68er-Gedächtnis in Österreich, S. 131 sowie S. 136.
340 Vgl. Keller, Mai 68, S. 74–79.
341 Vgl. Ebner/Vocelka, Die zahme Revolution, S. 118–144.
342 Vgl. Hiebl, Lebenswelt(en) der 68er in Salzburg, S. 299.
343 Vgl. ebd.: Hiebl zitiert eine Aussage Günther Nennings : »Das Jahr 1968 hat ein Jahr gedau-
ert, aber in einem bestimmten Sinn dauert es immer noch fort, unterirdisch, homöopathisch.
Nichts ist mehr so, wie es im Jahr 1967 war.«
344 Zu dem historischen Begriff der »Lebenswelt(en)« vgl. Kapitel 1.4.2 dieser Studie.
345 Vgl. Bauer, Das 68er-Gedächtnis in Österreich, S.
132. Vgl. dazu auch Hiebl, Sit-In, Teach-In,
Go-In, S. 14.
346 Bauer, Das 68er-Gedächtnis in Österreich, S. 132.
347 Abkürzung für den »Verband sozialistischer Student_innen Österreichs«.
348 Vgl. Bauer, Das 68er-Gedächtnis in Österreich, S. 132.
349 Zur Wiener Gruppe gehörten H.
C. Artmann, Konrad Bayer, Oswald Wiener, Gerhard Rühm
und Friedrich Achleitner, im weiteren Umkreis auch Ernst Jandl und Friederike Mayröcker.
Zur ursprünglichen Formation der Grazer Gruppe, die sich rund um das »Forum Stadtpark«
gebildet hatte und die Zeitschrift »manuskripte« herausgab, gehörten unter anderem Peter
68 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319