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das Österreichische gerne mündlich, was sich zum Beispiel in der übermäßigen
Verwendung des Perfekts als Erzählzeit äußert.363 Sie fühle sich, so Jelinek, »lei-
denschaftlich und patriotisch und geradezu fanatisch« als österreichische und
nicht als deutsche Autorin :
»Das Österreichische ist eine ganz andere Sprache… Jedenfalls haben die österreichi-
schen Autoren
– Gruppierungen wie die Wiener Gruppe zum Beispiel belegen das ja
–
der Sprache selbst immer mehr vertraut als die Deutschen, die die Sprache eigentlich
immer nur als Vehikel für irgendwelche Inhalte genommen haben.«364
Auch die »beißende Kritik«365 der Wiener Volkstheaterdichter Johann Nestroy
und Ferdinand Raimund, die sich im 20. Jahrhundert in der Literatur von Karl
Kraus und Ödön von Horváth fortsetzte, sind als prägende Einflüsse für Jelineks
Schreiben zu nennen : So finden sich Grotesken des Wiener Volkstheaters wie
auch der nachgeahmte Bildungsjargon, mit dem Horváth seine Spießbürger
ausstattete, als typische Gestaltungselemente in Jelineks Texten wieder.366
Auf diesen spezifisch österreichischen Traditionen baut der »böse Blick«367
der Elfriede Jelinek auf. Bei der (österreichischen) Autorin Jelinek werde nichts
»normal« gesagt, bemerken die (deutschen) Jelinek-Biografen Mayer/Koberg :
»… bei Elfriede Jelinek geht es oft zu wie bei Nestroy : Nichts wird ›normal‹ gesagt.
Jeder Satz platzt auf, jede gewundene Formulierung hat mindestens eine Windung zu
viel, an verräterischer Stelle, als Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt.«368
Jelinek betont zwar, dass sie sich immer bewusst darum bemüht habe, ihre Lite-
ratur in den Dienst einer »politischen Aussage zu stellen«369. Allerdings reali-
siert sie dieses Vorhaben nicht, indem sie versucht, die Wirklichkeit möglichst
realistisch abzubilden, im Gegenteil : Mit ihrer Literatur wendet sie sich gegen
eine Erzähltradition, die in sich geschlossene Geschichten mit Anfang, Mitte
und Ende und mit psychologisch fundierten Charakteren erzählt, die sich zur
363 Vgl. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 258. Zur österreichischen Varietät der deutschen Sprache
vgl. Muhr/Schrodt/Wiesinger, Österreichisches Deutsch. Vgl. auch Ammon, Die deutsche
Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S.117–227.
364 Jelinek, zitiert nach : Sander, Textherstellungsverfahren, S. 19 f.
365 Ebd., S. 22.
366 Vgl. ebd., S. 22 f.
367 Burger, Der böse Blick der Elfriede Jelinek, S. 17.
368 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 259.
369 Fuchs/Jelinek, »Man steigt vorne hinein…«, S. 20. 71
Poetologische Einführung |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319