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»Fremdtexte waren und sind das Ausgangsmaterial ihres Schreibens. Nicht immer sind
es literarische Texte, es können auch naturwissenschaftliche, philosophische oder trivi-
ale Lektüren sein, eine Zeitungsmeldung oder historisches Material. … Sie braucht die
verschiedenen Jargons, als Unterlage, als Gegengewicht oder als Klangfarbe.«380
Dabei betreibt Jelinek ein ständiges, detailverliebtes Spiel mit dem Veränderungs-
potential aller Sprachelemente, die aus ihren vorgefertigten Sinnzusammenhän-
gen herausgerissen und deren durch Konventionen festgelegte Bedeutungen
dadurch in Frage gestellt oder verworfen werden. Sabine Braun bezeichnet die-
sen Prozess als »semantische Umcodierung«381. Diese wendet die Autorin auf
verschiedenen Ebenen der Sprache an. Auf der Wortebene kann sie als Verän-
derung oder Verschiebung einzelner Buchstaben, als Alliteration, Wiederho-
lung, Kalauer (»Ich liebe Kalauer !«382), als Aneinanderreihung gleich oder ähn-
lich klingender Wörter und/oder als bewusster Verstoß gegen die Orthografie
daherkommen.383 Auch auf Ebene der Phrasen und Idiome realisiert Jelinek
dieses Verfahren, indem sie gängige Phrasen aufgreift, deren herkömmliche Be-
deutungen jedoch ad absurdum führt, etwa durch die übermäßige Verwendung
von Metaphern und Vergleichen, durch die Integration von Zitaten und Apho-
rismen, das Wörtlichnehmen idiomatischer Wendungen oder die Verwendung
verschiedenster Jargons und Dialekte. Auch auf der Textebene greift sie bereits
bekannte Texte oder Diskurse auf und verarbeitet sie weiter, indem sie diese aus
ihren herkömmlichen Sinnzusammenhängen herausreißt und dadurch fragwür-
dig erscheinen lässt.384 Das methodische Prinzip ist immer dasselbe : Jelinek
arbeitet »mit vorgefertigten und vorgestanzten Mustern« der trivialen, aber auch
der hohen Kultur, um sie »in Verfahren der Collage und Montage zu verformen
und ideologiekritisch zu brechen«385. Die genannten Ebenen der Textherstel-
lungsmethodik können dabei nicht unabhängig voneinander betrachtet wer-
380 Mayer, Elfriede Jelinek, S. 77.
381 Braun, Sprache und Ironie bei Elfriede Jelinek, S. 28
382 Jelinek, zitiert nach : Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 258
383 Jelineks Verweigerung der Neuen Rechtschreibung wird hier nicht zu den Stilmitteln ge-
rechnet – sie ist vermutlich als Ausdruck ihres Protests gegen die jüngste Rechtschreibreform
zu verstehen. In jungen Jahren wendete Jelinek, so wie viele ihrer sprachkritischen Vorbilder,
kategorische Kleinschreibung an und schrieb ohne Interpunktion, manchmal über die Zeilen-
ränder hinausgehend, in einem durch. Das normative Regelwerk der Sprache wurde damals
und wird heute von ihr bewusst durchbrochen. Dieses Durchbrechen ist Teil ihres destrukti-
ven Programms.
384 Vgl. Braun, Sprache und Ironie bei Elfriede Jelinek, S. 27 f.
385 Janz, Elfriede Jelinek, S. VII f. 73
Poetologische Einführung |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319