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den – sie stehen in einem »symbiotischen Verhältnis«386 zueinander. Gemein
ist ihnen die Tatsache, dass es sich in den meisten Fällen um bewusste (syntak-
tische, semantische oder orthografische) Regelverstöße handelt.387 »Ich schlage
sozusagen mit der Axt drein, damit kein Gras mehr wächst, wo meine Figuren
hingetreten sind«388, beschreibt die Autorin ihre Theaterästhetik und rekurriert
damit auf Franz Kafkas Ansicht, dass Literatur, die uns glĂĽcklich mache, obsolet
sei.389 Auch Elfriede Jelinek hat sich diesen Anspruch zur Aufgabe gemacht,
weshalb ihr von Seiten der Literaturkritik oft vorgeworfen wird, dass sie sich
einer Literatur der totalen Negativität verschrieben habe.390
Die Negativität steckt freilich im Kern des Destruierens, denn dem Destru-
ieren ist der »Wille zur Zerstörung«391 eigen – zur Verfremdung und Auflösung
der »Trivialmuster unserer Welt«392. Allerdings setzt die verkehrte Welt stets
eine bessere als MaĂźstab und Ziel der Kritik voraus, weil das satirische Schrei-
ben, zu welchem sich Jelinek bekennt, ohne eine theoretisch vorhandene bessere
Welt nicht funktionieren würde.393 Insofern ist das Eingeständnis der Negativi-
tät als relativ zu betrachten.
Das Aneinanderreihen und Ineinandermontieren verschiedenster Textele-
mente geschieht bei Jelinek zwar, wie Braun feststellt, ohne erkennbare Rang-
ordnung394, jedoch wohl nur scheinbar zufällig, denn in Bezug auf die Frage
der Textherstellung sollte Jelineks klassische Musikausbildung nicht auĂźer Acht
gelassen werden. Tatsächlich gehorchen die Texte der diplomierten Organis-
tinÂ
– so sehr sie auch darauf abzielen mögen, mit sprachlichen Konventionen zu
brechen – einer (klang-)ästhetischen Logik, welche die Schwedische Akademie
als »musikalischen Fluss«395 bezeichnet hat. Doch nicht nur das vom Nobel-
preiskomitee prämierte Spiel von Stimmen und Gegenstimmen erzeugt den
Eindruck eines musikalischen Schreibstils, sondern auch die starke Ă„sthetik der
lautlichen Verfremdung (die auch die Laut- und Dialektgedichte der Wiener
Gruppe kennzeichnete).
386 Braun, Sprache und Ironie bei Elfriede Jelinek, S. 28.
387 Vgl. ebd.
388 Jelinek, Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, S. 14.
389 Ein Buch müsse »die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«, hatte Kafka in einem Brief an
Oskar Polack vom 27. Januar 1904 geschrieben. Zitiert aus : Kafka, Gesammelte Werke, S. 27 f.
390 Vgl. Gürtler, Gegen den schönen Schein, S. 9 f.
391 Hoff, Stücke für das Theater, S. 114.
392 Alms, Triviale Muster, S. 31.
393 Vgl. Claßen, Satirisches Erzählen, S. 8.
394 Vgl. Braun, Sprache und Ironie bei Elfriede Jelinek, S. 28.
395 Aus der Pressemitteilung der Schwedischen Akademie vom 7.10.2004, zitiert nach : Janke,
Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek, S. 19.
74 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319