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als Arbeitsinstrument adaptiert hat.404 Texte oder Textteile können mit dem
Computer ungleich schneller verändert, kopiert, gelöscht oder erweitert werden
als mit der Schreibmaschine. Der Computer, so Jelinek, fordere sie regelrecht
dazu heraus, die Wörter wie LEGO®-Bausteine hin- und herzuschieben.405 Die
Arbeit mit dem PC erleichtert der Autorin demnach nicht nur den formalen
Schreibprozess, sondern begünstigt darüber hinaus ihren Hang, spielerisch mit
allen Komponenten der Sprache zu hantieren. Ihren letzten Roman, den sie als
»Privatroman« bezeichnet, hat Jelinek sogar ausschließlich (in Fortsetzungen)
auf ihrer Homepage veröffentlicht und nicht als Buch von einem Verlag heraus-
geben lassen. »Dieser Text mit Namen ›Neid‹ gehört nicht in ein Buch«, soll
sie Freunden ausgerichtet haben, die nach einer Printversion des Texts verlangt
hatten, »er gehört nicht auf Papier, er gehört in den Computer hinein, dort habe
ich ihn hineingestellt … und bin dann einfach weggegangen.«406
Prinzipiell gilt, dass Jelinek schreibend nichts Neues schafft, sondern Beste-
hendes aufgreift, in seine Einzelbestandteile zerlegt, in veränderte Zusammen-
hänge stellt oder mit etwas Neuem zusammenführt. Auf diese Weise destruiert
sie bestehende Sprachgebrauchsformen, anstatt schreibend zu konstruieren, und
zeichnet sich durch die Konsequenz dieser methodischen Umsetzung aus.
»Niemals wird einer ›unwirklichen‹ Welt eine ›wirkliche‹, wird der Fiktion die ›Realität‹
entgegengesetzt. Vielmehr wird die Entlarvung des Falschen und Entfremdeten vor-
genommen durch seine abermalige Entstellung, die nichts Neues und Anderes schafft,
sondern selber gebunden bleibt an die trivialen Muster und ihre wie immer auch defor-
mierende Reproduktion.«407
Durch diese Techniken ergeben sich allerdings auch Einschränkungen für die
Rezeption, denn die Autorin legt sich nicht nur durch die Auswahl ihrer The-
men, die sehr stark auf aktuelle gesellschaftspolitische und mediale Bezüge re-
kurrieren, sondern auch durch ihren intertextuellen Schreibstil bewusst auf den
(süd-)deutschen/österreichischen Sprachraum fest. Eine internationale Rezep-
tion erscheint daher nur eingeschränkt möglich. Die Übersetzung ihrer Texte
bedeutet in jedem Fall die Herausforderung, in der jeweiligen Zielsprache einen
neuen Schreibstil entwickeln zu müssen, der Jelineks Methoden adaptiert. Selbst
404 Auf Anregung ihres Mannes, Gottfried Hüngsberg, hin, begann Jelinek bereits Mitte der
1980er Jahre den Computer zum Schreiben zu benützen. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 76
sowie S. 145 f.
405 Vgl. Leiprecht, Die elektronische Schriftstellerin, S. 3.
406 Vgl. »Ein paar Anmerkungen zu Neid«, online abrufbar unter : http://www.elfriedejelinek.com.
407 Janz, Elfriede Jelinek, S. 7.
76 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319