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die Assoziationen plötzlich in eine ganz unerwartete Richtung, dann gibt es in
einem Satz plötzlich drei Doppelaxel«412, so Jelinek. Der Dichter stehe immer
im »Abseits«, außerhalb der Wirklichkeit, die er versuche abzubilden, erklärte
sie in ihrer Rede zum Nobelpreis. Von dort aus sehe er die Wirklichkeit zwar
besser, könne selbst aber nicht dort bleiben, weil es in der Wirklichkeit keinen
Platz für ihn gebe.413 Und nun scheine es so, als ob die Sprache in die Wirklich-
keit verschwinde und die Dichterin im Abseits allein lasse :
»Weil ich im Schreiben Schutz gesucht habe, kehrt sich dieses Unterwegssein, die
Sprache, die in der Bewegung, im Sprechen, mir ein sicherer Unterstand zu sein schien,
gegen mich. (…) Was immer geschieht, nur die Sprache geht von mir weg, ich selbst,
ich bleibe weg. Die Sprache geht. Ich bleibe, aber weg. Nicht auf dem Weg. Und mir
bleibt die Sprache weg.«414
Dass Elfriede Jelinek tatsächlich die Sprache wegbliebe, steht nicht zu befürch-
ten. »Im Abseits« widerspiegelt zum einen den vorläufigen Endpunkt einer
jahrelangen ästhetischen Entwicklung und ist zum anderen wie sämtliche Je-
linek-Texte als Satire zu lesen. Und so bereitet der Autorin, die souverän wie
kaum eine andere mit Sprache hantiert, die scheinbare Unterordnung unter ihr
»Hündchen« keinerlei Probleme. Die Dankesreden, die Jelinek im Laufe der
Jahre aus Anlass verschiedenster Ehrungen gehalten hat, dokumentieren einen
»schleichenden Rückzug«415, meinen die Biografen Mayer/Koberg. Am Ende
dieses Rückzugs stehe die vielleicht bittere, aber jedenfalls befreiende Erkennt-
nis, für niemanden mehr Verantwortung tragen zu müssen : weder für die Mut-
ter, noch für die Gesellschaft, noch für das eigene Schreiben.
Jelineks zentrales Schreibverfahren ist die Destruktion, ihr bevorzugtes
Genre die Satire. Am Höhepunkt ihres literarischen Schaffens destruiert sie die
eigene Sprache, das eigene Schreiben, den eigenen Mythos. Aus dem Abseits
kann sie, die Nobelpreisträgerin, die alles erreicht hat, was man im Beruf des
Schriftstellers erreichen kann, entspannt beobachten, wie bemühte Germanisten
versuchen, das zusammenzubasteln, was sie längst in die Freiheit entlassen hat.
Wer hier wen Gassi führt, ist demnach schon längst entschieden.
412 Dies., zitiert nach Leiprecht, Die elektronische Schriftstellerin, S. 3.
413 Vgl. ebd.
414 Ebd.
415 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 257.
78 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319