Seite - 80 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 80 -
Text der Seite - 80 -
der »Vielen«422 (die ent-individualisierte, ent-politisierte und ent-historisierte
Mehrheitsbevölkerung), ohne deren stille Duldung die Eskalation von Gewalt
und Krieg im Nationalsozialismus nicht möglich gewesen wäre.423
Auch ihre scheinbar rein feministischen Texte, der Roman »Die Liebhaberin-
nen« oder das Theaterstück »Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen
hatte«, sind unter diesem Lichte zu lesen. Sowohl Jelineks Feminismus als auch
ihre Situierung im Kontext von Poststrukturalismus und Postmoderne werden
jedoch »zumeist falsch eingeschätzt, weil ihre marxistischen Orientierungen
ausgeblendet werden«424, so Marlies Janz. Jelineks Mythendestruktionen ver-
stehen sich als »aufklärerische Ideologiekritik«425. In dieser werden die unglei-
chen Machtverhältnisse von der jeweils herrschenden Klasse, gesellschaftlichen
Gruppe oder dem dominierenden Geschlecht künstlich hergestellt und als ge-
sellschaftliche Mythen weitergegeben. Als Vehikel für deren Propagierung dient
eine manipulierbare und ideologisch vereinnahmbare Sprache, welche über die
modernen Massenmedien als scheinbare Norm transportiert wird.
Mit ihrer Sprach- und Medienkritik steht Jelinek in der Tradition Theodor
Adornos, der Faschismus als ein Phänomen der manipulierten, verdummten
und ent-politisierten Masse dargestellt sowie den Zusammenhang von Sprache
und Faschismus beschrieben hat.426 Für Adorno bestand die größte Gefahr des
Nationalsozialismus in dem »Fortbestand jener Strukturen, welche ihn seiner
Meinung nach einst befördert und gestützt hatten«427.
Eben jenen Fortbestand will Jelinek mit ihrem Destruktionsverfahren auf-
zeigen, das keine Lösungen anbietet, sondern Sprachgebrauchsformen wider-
spiegelt und parodiert, denn anhand der Sprachverwendung einer Gesellschaft
können Mythen reflektiert werden. Auf diese Weise wird »das Wiedergänger-
tum des Faschismus«428 zum zentralen Gegenstand in ihrem Œuvre, und zwar
nicht nur als Thema, sondern auch als Fixpunkt ihrer literarischen Verfahrens-
weisen.429
Der Opfermythos als spezifisch österreichisches Phänomen stellt sich dabei
für Jelinek als Folge der Verschleierung und Manipulation einer politisch ver-
422 Lüdtke, Macht der Emotionen, S. 54.
423 Vgl. Kapitel 1.4.2 dieser Studie.
424 Janz, Elfriede Jelinek, S. VII.
425 Ebd.
426 Vgl. Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, vor allem das Kapitel »Kulturindustrie.
Aufklärung als Massenbetrug«, S. 141–191. Vgl. auch Geml, Zum Begriff des Faschismus bei
Adorno, S. 67 ff.
427 Geml, Zum Begriff des Faschismus bei Adorno, S. 69.
428 Lücke, Elfriede Jelinek, S. 7.
429 Vgl. Janz, »Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen«, S. 225.
80 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319