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und Selbstverwirklichung auf : Vor allem die Weiblichkeitsvorstellungen der
bürgerlichen Protagonistin werden »unmittelbar enggeführt mit Nazi-Ideolo-
gie«450. Zugleich ist »Nora« das einzige Stück Jelineks, das eine positive Heldin
in der Figur der Arbeiterin EVA kennt. Diese vertritt aufgeklärte Positionen
und erkennt den von Jelinek propagierten Zusammenhang von Ă–konomie und
Emanzipation.451 Der Feminismus der Hauptfigur NORA hingegen wird als un-
politisch und trivialmythisch destruiert.452 Jelinek selbst bezeichnete ihre Pro-
tagonistin als »sehr negative Frauenfigur«453, die an ihrem emanzipatorischen
Vorhaben scheitert, weil sie sich letzten Endes – obwohl ihr als Frau aus dem
Bürgertum durchaus Alternativen offengestanden wären – selbst zur Komplizin
ihres Mannes degradiert.454 Anklänge an das Brechtsche Lehrstück lassen einen
didaktischen Auftrag erkennen, den spätere Jelinek-Stücke (jedenfalls in dieser
offenkundigen Form) nicht mehr kennen.455 NORA steht vor der Entscheidung
zwischen zwei möglichen Schicksalen : dem selbstbestimmten und dem fremd-
bestimmten, (vom Mann) abhängigen Leben. Wahre Emanzipation mit gleich-
zeitiger Bindung an einen Partner kann aber nach Jelinek nicht glĂĽcken, da
diese immer eine Form von »Komplizenschaft« nach sich zieht :
»Ich habe die Frauen sehr kritisch als Opfer dieser patriarchalen Gesellschaft gezeigt,
die sich aber nicht als Opfer sehen, sondern glauben, sie könnten Komplizinnen sein. …
sobald die Frauen sich zu Komplizinnen der Männer machen, um sich dadurch einen
besseren sozialen Status zu verschaffen, muß das schiefgehen.«456
In Jelineks »Nora«-Stück ist bereits die (später noch radikalisierte) Theateräs-
thetik der Autorin erkennbar, in der sie ihre Figuren »entmenschlicht«, indem
sie ihnen jede Individualität und jede Fähigkeit zur freien Meinung abspricht :
Keine Figuren, keine Körper stehen hier auf der Bühne, sondern hohle »Kada-
ver«457, die Sprachklischees wiedergeben und schablonenhaft von scheinbaren
Wirklichkeiten erzählenÂ
– auch dies zweifelsohne eine didaktischen Maßnahme,
jedoch auf Umwegen (»The Truth must dazzle gradually …«458).
450 Janz, »Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen«, S. 229.
451 Vgl. Janz, Elfriede Jelinek, S. 32 f.
452 Vgl. ebd., S. 36.
453 Jelinek, zitiert nach : Meyer, Sturm und Zwang, S. 59.
454 Vgl. ebd.
455 Vgl. Janz, Elfriede Jelinek, S. 38.
456 Jelinek, zitiert nach : Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, S. 13.
457 Vgl. Janz, Elfriede Jelinek, S.Â
37Â
f. Vgl. Jelinek, Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, S.Â
14Â
ff.
Vgl. auch dies.: Ich möchte seicht sein, S. 157–161.
458 Dickinson, Gedichte, S. 410 f. Vgl. das lyrische Motto dieser Studie.
84 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319