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»Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen, noch einmal ganz von vorne zu begin-
nen, zu demselben Entschluß hat sich auch die Unschuld durchgerungen. Witkowski
fängt in ihr wieder ganz von unten an, wo sonst nur junge Menschen anfangen, die alles
vor sich haben…«467
Die faschistische Gewalt, die WITKOWSKI während des Kriegs in den Konzen-
trationslagern praktizierte, hat er jedoch nicht überwunden, sondern übt sie an
den nun verfügbaren Opfern aus : an der alles erduldenden Ehefrau und den
bereits jugendlichen Kindern, den Zwillingen RAINER und ANNA. Diese sind
psychische »Krüppel der kleinbürgerlichen Familie«468, welche die von Wilhelm
Reich diagnostizierte Anfälligkeit des Kleinbürgertums für den Faschismus, den
sie durch den Vater erleiden, bloß reproduzieren.469 Zusammen mit zwei ande-
ren Jugendlichen, SOPHIE, einer Tochter aus reichem Hause, und dem jungen
Arbeiter HANS, überfallen sie nachts Passanten, berauben und quälen sie. Die
Kinder des Kriegs revoltieren gegen die Eltern
– jene Generation, die in den Na-
tionalsozialismus involviert war und am Krieg aktiv oder passiv teilgenommen
hat.470 Auf der intertextuellen Ebene sind Bezüge zu Jean Paul Sartre, vor allem
zu dessen Roman »Zeit der Reife«, dominant.471
In der Darstellung des Kleinbürgertums folgt der Roman weitestgehend
den Theoremen des frühen Wilhelm Reich.472 In der Figur des WITKOWSKI
setzte Jelinek dessen »Analyse der kleinbürgerlich-patriarchalen Familie und
ihrer Sexualverdrängung«473 literarisch um. Diese schlägt um in Sadismus und
willkürliche Gewaltanwendung, der von Jelinek vermutete Zusammenhang der
kleinbürgerlich-patriarchalen Familienform mit dem Nationalsozialismus wird
deutlich : WITKOWSKIs nunmehr gepflegter Alltagsfaschismus soll ihm die Sen-
sation von Leichenbergen aus den Konzentrationslagern ersetzen.474
Hinter den Gewaltakten der jugendlichen Protagonisten, die als Kinder von
Tätern und als Kinder von Opfern in unterschiedlicher Weise vom NS-Faschis-
mus gezeichnet sind, steht der Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg. Die-
sen wollen sie über Bildung erreichen : »In dieser neuen Zeit macht Wissen frei
467 Ebd., S. 98.
468 Janz, Elfriede Jelinek, S. 42.
469 Vgl. ebd.
470 Vgl. Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S. 146.
471 Vgl. Janz, Elfriede Jelinek, S. 49.
472 Vor allem dem 1933 zuerst erschienenen Werk »Die Massenpsychologie des Faschismus«. Vgl.
Kapitel 1.4.1 dieser Studie. Zu dem Vergleich mit Reich siehe Janz, Elfriede Jelinek, S. 45 f.
473 Janz, Elfriede Jelinek, S. 45.
474 Vgl. ebd.
86 | Einleitung
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319