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Wir sind nichts, wir sind nur, was wir scheinen : Land der Musik und der weiĂen
Pferde.«487
In ihrer Heimat habe sich Jelinek mit dieser Rede jedenfalls »nicht gerade be-
liebter gemacht«, stellt die Literaturwissenschafterin Christa GĂŒrtler trocken
fest, denn »mit KĂŒnstlern, die sich ideologiekritisch mit dem schönen Schein
dieses Landes auseinandersetzen, will dieses Land⊠nichts zu tun haben«488.
Aus Anlass der Waldheim-AffĂ€re verfasste Jelinek auĂerdem das Dramo-
lett »PrĂ€sident Abendwind« â eine Paraphrase auf Johann Nestroys »HĂ€uptling
Abendwind«, in welcher BundesprÀsident Kurt Waldheim als KannibalenhÀupt-
ling einer SĂŒdseeinsel dargestellt ist.489
Die von GĂŒrtler angesprochene ideologiekritische Auseinandersetzung er-
folgt in Jelineks essayistischen Texten und Reden erstaunlich offen, sehr expli-
zit und sehr deutlich : So bezeichnete sie etwa Ăsterreichs Selbststilisierung als
Opfer eines vermeintlich deutschen Faschismus in einem Essay aus dem Jahr
1991 als »Staatsdoktrin«490, also als staatlich verordneten VerdrÀngungsprozess,
oder schreibt an anderer Stelle vom »Judenschlachten« â eine »liebe alte Ge-
wohnheit hierzulande von altersher«491.
Die Prosa- und Theatertexte sind naturgemÀà weitaus artifizieller, die Ideolo-
gie- und Sprachkritik wird hier mit anderen Mitteln dargebracht. So steigt das
gesellschaftlich VerdrĂ€ngte in Jelineks Romanen und TheaterstĂŒcken (spĂ€tes-
tens seit den 1980er Jahren) immer wieder als untotes Relikt an die OberflÀche,
was sich durch das wiederholte Auftreten von Geistern, Zombies oder Vampiren
niederschlĂ€gt, etwa in den TheaterstĂŒcken »Krankheit oder Moderne Frauen«
oder »Ulrike Maria Stuart«. In dem Untoten-Topos findet die »Entmenschli-
chung« der Figuren, die in Jelineks Texten immer schon hohl, tot, nur schein-
bare Individuen waren, ihren gesteigerten Ausdruck.
In ihrem Opus Magnum, dem Roman »Die Kinder der Toten« aus dem Jahr
1995, geistern sowohl Opfer als auch TĂ€ter des Nationalsozialismus als verwe-
sende Zombies durch ein Ăsterreich mit einschlĂ€giger Vergangenheit.492 Wie-
derum dĂŒrfte nicht zuletzt die eigene Familiengeschichte das Wiederholen und
Variieren dieses Toposâč motiviert haben :
487 Jelinek, In den Waldheimen und auf den Haidern, S. 42.
488 GĂŒrtler, Gegen den schönen Schein, S. 7.
489 Vgl. Janke, Nestbeschmutzerin, S. 50â53.
490 Jelinek, Die Ăsterreicher als Herren der Toten, S. 61.
491 Jelinek, Ein deutsches MĂ€rchen, unpaginiert.
492 Zu »Die Kinder der Toten« vgl. Kapitel 3.2 dieser Studie. 89
Poetologische EinfĂŒhrungâ |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319