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kurstheorie, wonach der Autor als souverÀn schaffendes Subjekt seine zentrale
Funktion verliere und die Bedeutung eines literarischen Texts gerade in dessen
Verweisungsfunktion liege, die ihn in den allgemeinen Text der Kultur, oben
nach Becker als »kultureller Gesamttext« bezeichnet, integriere.26
Die mangelnde PraktikabilitÀt der poststrukturalistischen Theorien wurde
von Seiten der Texthermeneutik immer wieder kritisiert, denn Poststruktura-
listen wie Jacques Derrida gehen von der Annahme aus, dass Texte unter- und
miteinander kommunizieren â eine Vorstellung, die letztlich sowohl die Sou-
verÀnitÀt des Autors in Frage stellt, als auch die von Barthes beschriebene ak-
tive Leserinstanz ausschlieĂt, da der Intertext fĂŒr beide Instanzen nicht greifbar
ist. In diesem Zusammenhang ist Kristevas besonderer Verdienst zu bemer-
ken : Sie nÀherte die poststrukturalistischen IntertextualitÀtstheorien der Re-
zeptionsÀsthetik an, was die Interpretation eines (kommunizierenden) Textes
wieder möglich machte, obwohl der Autor auch in ihrem Modell keine Rolle
spielt. Die unterstellte wechselseitige Beziehung von Texten kann aber durch
den Rezipienten aktiviert und somit auch durch die literaturwissenschaftliche
Interpretation aufgedeckt werden.27 Die Integration von Kristevas Modell in die
Praxis ermöglicht die Entwicklung konkreter Verfahrensweisen, zum Beispiel
die Beschreibung des VerhÀltnisses von Post- und PrÀtexten, aber auch die Of-
fenlegung und Analyse des sich daraus ergebenden Intertextes.28
In Hinblick auf die Rezeption von Jelinek-Texten ist die IntertexualitÀt zu-
gleich Segen (fĂŒr die Beschreibung) wie auch Fluch (fĂŒr die empirische Unter-
suchung). Jelineks »extrem intertextuelle«29 Schreibweise lebt davon, »in frem-
den Zungen [zu] reden«30. Die Frage, die sich daher stellt, ist nicht nur, ob
es möglich, sondern auch ob es sinnvoll ist, die zahllosen PrÀtexte dekuvrieren
und zuordnen zu können â denn die richtige Zuordnung muss nicht automa-
tisch zu einer plausiblen Interpretation fĂŒhren. Die Literaturwissenschafterin
Konstanze Fliedl zeigte sich gar ein wenig empört ĂŒber Jelineks vermeintliche
Aufforderung, die Germanisten sollten »Such, Hundi !«31 spielen und nach ver-
steckten Literaturzitaten suchen. Fliedl kritisierte, dass es fĂŒr den Rezipienten
ohnehin klar sei, dass sich jeder Text aus »lÀngst vorhandener und neu amal-
gamierter Sprache« zusammensetze, seit dem linguistic turn erĂŒbrige sich ein
Quellennachweis, »der sich ja eigentlich ins Unendliche fortsetzen mĂŒsste«32.
26 Vgl. ebd., S. 144 f.
27 Vgl. ebd., S. 145 f.
28 Vgl. ebd.
29 Janz, Elfriede Jelinek, S. IX.
30 Jelinek, Ich bin im Grunde stĂ€ndig tobsĂŒchtig ĂŒber die Verharmlosung, S. 90.
31 Jelinek, Lesen kann vernichten, S. 67 f.
32 Fliedl, Im Abseits, S. 20. Vgl. auch Steinkellner, Traditionen der Moderne, S. 71. 103
Zur IntertextualitĂ€tâ |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, IntertextualitÀt
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. LektĂŒre- und DeutungsvorschlĂ€ge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten SekundÀrliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die ErzÀhlinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die groĂe Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂŒmee 279
- 5. Epilog â Wir warenâs nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319