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Den »Jedermann« mimte das Realvorbild für Istvan, Attila Hörbiger, tatsäch-
lich in den Jahren 1935 bis 1937 sowie zwischen 1947 und 1951. Max Rein-
hardt, der zu den Mitbegründern der Salzburger Festspiele zählt135, zu deren
jährlichen Höhepunkten bekanntermaßen die Aufführung des »Jedermann« am
Salzburger Domplatz gehört, sei zu Unrecht nach Amerika geflohen, befindet
Istvan im Text wenig später. Reinhardt, der offene Affinitäten zum Katho-
lizismus hegte, seine jüdische Konfession jedoch niemals abgelegt hatte, war
1937 in die USA geflohen, wo er 1943 auch verstarb. Wenn Reinhardt geblieben
wäre, dann »hättmers eahm scho gricht«136, sagt die Figur Istvan im Stück –
so stellte das Deutsche Reich mitunter Ehren-Arierschaften aus, um jüdische
Künstler halten zu können. Angeblich wurde auch Reinhardt dieses Angebot
gemacht.137 Hitler selbst habe Reinhardts Fähigkeiten und Verdienste nicht be-
stritten, vermerkte Joseph nach einem Gespräch mit Hitler im Dezember 1940
in seinem Tagebuch : »In der Reproduktion vermag der Jude manchmal etwas zu
leisten«138, kommentierte der »Reichsminister für Volksaufklärung und Propag-
anda« Joseph Goebbels den Widerspruch zwischen der Anerkennung jüdischer
Kulturschaffender und der antisemitischen (Kultur-)Politik des Regimes. Durch
Äußerungen wie die oben zitierte wird klar, dass Istvan auch im Angesicht der
Eroberung Wiens durch die Rote Armee kein Unrechtsbewusstsein entwickelt
hat und sich im Moment alles nur um die Frage dreht, wie er sich selbst und
das eigene Tun am besten darstellen könne – nicht, was in den Jahren davor
tatsächlich passiert ist.
Immer wieder kreist Jelineks »Burg theater«-Text um die Frage, wie mit
dem Nachkriegswissen umgegangen, wie aus der nachträglichen Perspektive
über die Vergangenheit gesprochen, was verdrängt und was vergessen wird.
Das, was die Opfermythostheorien auf theoretischer, wissenschaftlicher Basis
hinterfragen, thematisiert auch Jelineks artifizielle Literatur und im »Burg-
theater«-Stück auf komprimierte Art und Weise, denn darin geht es einzig und
allein um die Frage, wie im Nachhinein über den Nationalsozialismus gespro-
chen werden kann und wie über die persönliche oder kollektive Beteiligung
geurteilt werden muss. Istvan repräsentiert dabei jenen Typus, der jedwede
bewusste Konfrontation scheut und somit auch jeden Versuch von Wiedergut-
machung unmöglich macht.
135 Gründete gemeinsam mit Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss, Alfred Roller und Franz
Schalk im Jahr 1920 die Salzburger Festspiele.
136 BT, S. 172.
137 Vgl. Ackerl, Die bedeutendsten Österreicher, S. 94 f. Vgl. auch Steiner, Die verdrängten Jahre,
S. 187. Weiterführende Literatur zu Ferdinand Raimund : Hofinger, Die Akte Leopoldskron.
138 Fröhlich, Tagebücher des Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 4, Eintrag vom 22.12.1940, S. 441.
130 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319