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silbernen Kerzenleuchter auf Theres los …166), die Kinder (… nimmt Istvans Reit-
gerte und haut ihnen unter dem Tisch auf die Waden …167) oder den Ehemann
(…Â
Tritt Istvan jäh und unerwartet zwischen die Beine.168), nimmt nach Kräften
an der Erschlagung des Alpenkönigs teil (… wirft sich gegen den Alpenkö-
nig, der fällt gegen seinen Kahn, beides taumelt, wankt, kracht.169) und verabscheut
den Burg theaterzwerg, den sie als »Unnatürl«170 bezeichnet, womit sie sich
wiederum selbst als Verkörperung von Natürlichkeit hervortut. Für sie verkör-
pert der Zwerg das »unwerte Leben«, das im nationalsozialistischen Weltbild
keinen Platz hat (»Ich verabscheue alles Künstliche und Gemachte wie dies zu
klein geratene Wesen hier.«171).
Auch Käthe handelt demnach politisch, auch wenn sie sich stets auf das
»Gemeinschaftserlebnis«172 der Kunst beruft. Zugleich spielt Jelinek in zuletzt
genannter Textstelle mit dem Mythosbegriff, denn die Figur Käthe steht ge-
rade fĂĽr falsche NatĂĽrlichkeit. Ihre Distanzierung von allem KĂĽnstlichen und
Gemachten – ist ein Kleinwüchsiger künstlich ? – ist daher als weiteres Bau-
steinchen der Jelinek’schen Ironisierung zu begreifen.
Käthe verliert mit zunehmendem Handlungsverlauf immer mehr den Ver-
stand, was sich in ihrem akuten Sprachverfall widerspiegelt : Ständig fällt sie
in Rollen, beendet dabei viele der zitierten Textpassagen und der dazwischen
gestreuten, scheinbar spontanen Sätze nicht mehr, nimmt an den Dialogen der
Familie nicht mehr richtig teil und wirkt unzurechnungsfähig.
Ihre mangelnde Einschätzung der (nationalsozialistischen) Wirklichkeit
kommt schon im ersten Teil des Stücks deutlich zum Ausdruck, in dem sie völlig
entgeistert in einen Dialog zwischen Schorsch und Istvan einsteigt, die sich
darüber unterhalten, dass die jüdischen Schauspielkollegen von der Bildfläche
verschwunden seien (auch hier fällt wiederum der Wechsel zwischen Dialekt
und Hochsprache auf) :
Käthe vernünftig : Woos ? Weg sans ? Geh weida ! Wirkli ? Ei freilich, ich sah sie lang
nicht mehr. Lang lang ists her. Waldgrün der Heimat so duftig und traut. Itzig beläs-
tigt das daitsche Weib mit seiner abnormen Ungeschschsch – stammelt – itzlichkeit !
Istvan zwickt sie in den Arsch, sie juchzt. Schleichen sie nicht mehr ĂĽber die Wiesen
und Auen unseres lieben Alpenvorlands ? Jene spitznasigen, plattfĂĽĂźigen kleinen Ge-
166 BT, S. 133.
167 BT, S. 136.
168 BT, S. 153.
169 BT, S. 146.
170 BT, S : 169.
171 BT, S. 168.
172 BT, S. 168.
136 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319