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Zudem sind zahllose gestalterische Elemente dem Wiener Volkstheater
entlehnt, das ursprünglich in Opposition zum Burg theaterbetrieb stand. Be-
reits der Untertitel des Stücks, »Posse mit Gesang«, der nur als Paradoxon zum
Haupttitel »Burg theater« gelesen werden kann, verweist auf Jelineks vorwiegend
angewendete Mittel : Verfremdung, Montage und Kontrast.222 Die »Posse« als
»anspruchslose, volkstümliche Komödienform, die durch vordergründige, pri-
mitiv-derbe … Komik«223 Lachen erzeugen will, wurde zunächst nur im Vor-
stadttheater gezeigt, fand aber mit den Zauberpossen Ferdinand Raimunds und
den Satiren Johann Nestryos Eingang ins Burg theater :
»In der Kontrastierung von ›Posse mit Gesang‹ und der im Haupttitel genannten Kul-
turinstitution wird ein Teil dieser Geschichte : nämlich die ursprüngliche Opposition
von Vorstadttheater und Hoftheater und die nachfolgende Einebnung dieser Opposi-
tion im bürgerlichen Kulturbetrieb angespielt. Die Posse findet im Burg theater statt,
das Burg theater ist eine Posse.«224
Vor allem Käthe wetteifert dem Ideal, Burgschauspielerin zu sein und Burg-
theaterdeutsch zu sprechen, unentwegt nach. Ihre nahezu aggressiv zur Schau
gestellte Natürlichkeit verbirgt gleichzeitig die Verantwortung für ihr Handeln.
Die Natürlichkeit und die »natierliche Gutmietigkeit«225 sind prononciert, an-
gelernt und alles andere als natürlich. Allein die Regieanweisung Jelineks, die
Sprache sei als Kunstsprache zu behandeln, deutsche Schauspieler mögen den
Text lernen und darbringen, macht dies deutlich. Die angebliche Natürlichkeit
wird hier als Mythos kenntlich gemacht. Käthe, die nicht müde wird, ihre
Liebe zur Schauspielerei, zum Burg theater, zur Sprache und zur Literatur her-
vorzukehren, wird insgesamt als mythische Figur entlarvt.
Die Sprache des Stücks »spricht«226 tatsächlich : Durch sie wird deutlich,
dass hier nichts Unschuldiges vor sich geht, sondern die Protagonisten durch
die Wahl ihrer Sprechweise eine bewusst motivierte Entscheidung treffen, die
die Wahrheit zu verschleiern sucht : das Politikum des vorgeblich unpolitischen
Künstlers im NS-Regime.227 Wiederum muss an dieser Stelle darauf verwiesen
werden, dass nicht der Vorwurf des Wegschauens oder des Mitläufertums in
der faschistischen Diktatur im Zentrum des Texts steht, sondern der Vorwurf
222 Vgl. Hochholdinger-Reiterer, Amok, 47.
223 Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 701.
224 Lengauer, Jenseits vom Volk, S. 218 f.
225 BT, S. 169.
226 Jelinek, Lust, S. 28.
227 Vgl. auch Löffler, Ludersinn, S. 219.
146 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319