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auch einer von innen her war, sowie durch die Involvierung der Bevölkerung
in das NS-System und dessen Angebote widerlegt.245 Es gilt : Nationalcharak-
tere sind nichts weiter als Konstrukte – nationale Mythen. Österreich konnte
nach 1945 auf ein »unschuldiges Bild«246 zurückgreifen, das den urgemütlichen,
kaisertreuen und gottesfrommen, Musik liebenden Individualisten beschwört,
der vorwiegend dem Privaten frönt. Dieses Bild besagt weiters : Der männliche
deutsche Streber, der nach Tüchtigkeit und Vorschrift handelt, hätte sich den
Nationalsozialismus ausgedacht, Österreich und die Österreicher hätten beim
»Umbringeln« nur ein bisschen mitgemacht
– eine reduktionistische Sichtweise,
die in den Opfermythostheorien als »Externalisierung«247 von Schuld und Mit-
verantwortung bezeichnet wird.
Das wortentstellende Verfahren, das an den dargebrachten Textbeispielen aus
»Burg theater« vorgeführt wurde und als Destruktion bestehender Prätexte zu
lesen ist, begleitet den gesamten Text und erinnert von seiner Form her mitunter
an die Sprachexperimente der Wiener Gruppe, zum Beispiel an die Gedichte
Ernst Jandls. Eine assoziative, aber auch lautliche Ähnlichkeit zu dessen Ge-
dichten (etwa »wien : heldenplatz« oder»schtzngrbmm«) findet sich bereits am
Beginn des Stücks, wenn Käthe deklamiert :
Käthe : Ehebaldigst böckelts im Schützengraben und die Stukas stürzen vom Himmel.
Doch halt, seht ! Ein Fallschirm hat sich geöffnet, der kühne Flieger konnte sich retten.
Unten wartet mit brünftelndem Rock die Bäuerin. …248
Zum Vergleich dazu sei an dieser Stelle die dritte Strophe von »heldenplatz«
zitiert :
pirsch !
döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz
mit hünig sprenkem stimmstummel.
balzerig würmelte es im männechensee
und den weibern war so pfingstig ums heil
zumahn : wenn ein knie-ender sie hirschelte.249
245 Vgl. Tálos/Hanisch/Neugebauer, NS-Herrschaft in Österreich.
246 Beschreibung des Mythos nach Barthes, vgl. Kapitel 1.4.3 dieser Studie.
247 Begriff von Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus, S. 250. Vgl. auch Kapitel 1.4.4 dieser
Studie.
248 BT, S. 131 f. Vgl. Jandls Gedicht »schtzngrbmmm« in : Jandl, Laut und Luise, S. 38 f.
249 Ebd., S. 37.
152 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319