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Das Kinoprojekt war von Goebbels langfristig geplant und aufwändig be-
worben worden.315 Wessely äußerte 1971, dass sie die Tragweite des Films erst
habe erkennen können, als sie ihn fertig gestellt vor sich sah – ein Argument,
das angesichts der Dialogstellen und der Vorankündigungen des Films nicht
überzeugend ist, so Steiner.316 Alle Beteiligten haben wissen müssen, wobei sie
mittaten, findet auch Löffler.317 In einer Rezension des nationalsozialistischen
Propagandablatts »Völkischer Beobachter« wurde der »Heimkehr«-Film im
Oktober 1941 folgendermaßen angepriesen :
»Vor dem Hintergrund der historischen Weltentscheidung führen die in diesem großen
und ergreifenden Filmwerk gezeigten Schicksale volksdeutscher Männer und Frauen
aus dem Spätsommer des Jahres 1939 zu dem Grund des uns aufgezwungenen Schick-
salkampfes. Deutschland ging es nicht um imperialistische Eroberungen ; die Anerken-
nung des Lebensrechtes deutscher Menschen in der Welt stand am Beginn, die Siche-
rung ihres Daseins an Leib und Seele. Was in diesen Tagen und Wochen zu uns tönt,
das nahm in den Dezennien vor dem 1. September 1939 in der Not der Volksdeut-
schen seinen Anfang : der brutale Wille der plutokratischen Demokratien, Deutschland
und die Deutschen zu vernichten, zu ermorden, auszurotten. Die Schicksale des Film-
werks ›Heimkehr‹ stehen für hunderttausende andere.«318
Mit dem »aufgezwungenen Schicksalkampf« ist der Zweite Weltkrieg, in Wahr-
heit ein Offensivkrieg des Deutschen Reichs zum Zwecke der Territorialge-
winnung, gemeint. Von Anfang an wurde in der deutschen Propaganda jedoch
der Mythos, das »unschuldige Bild«319, vom Defensivkrieg geschürt. Nachdem
die deutsche Luftwaffe in den frühen Morgenstunden des 1. September 1939,
nach einem fingierten polnischen Überfall, mit 29 Sturzkampfbombern die
Stadt Wieluń angegriffen hatte, übertrug der Rundfunk vormittags die aus An-
lass des Kriegsbeginns gehaltene Reichstagsrede Adolf Hitlers, in welcher dieser
bekanntermaßen vermeldete : »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen.«320
Auch im ersten Wehrmachtsbericht, der noch von Hitler selbst redigiert wor-
den war, wurde festgehalten, dass die Wehrmacht »auf Befehl des Führers und
Reichskanzlers den aktiven Schutz des Reiches übernommen« und »in Erfül-
315 Vgl. Steiner, Die verdrängten Jahre, S. 121.
316 Ebd., S. 122.
317 Löffler, Was habe ich gewußt, S. 91.
318 Völkischer Beobachter, 24.10.1941, zitiert nach : Wulf, Theater und Film im Dritten Reich,
S. 394 f.
319 Barthes, Mythen des Alltags, S. 98. Vgl. auch Kap.1.4.3. dieser Studie.
320 Hitler, zitiert nach : Kershaw, Hitler 1936–1945, S. 313.
164 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319