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Attilas älterer Bruder Paul, in Jelineks Stück unschwer in der Figur des
Schorsch wiederzufinden, war kein Mitglied der NSDAP gewesen. Auch er
hatte jedoch 1938 für die »Heimkehr Österreichs« ins Deutsche Reich gewor-
ben :
»Seit zwölf Jahren als Oesterreicher in Berlin lebend, ist für mich mit ›JA‹ zu stim-
men eine klare und deutliche Angelegenheit, da ich ja nicht nur Zeuge des Verfalles
in Deutschland war, sondern auch den fast unglaubhaften Wiederaufstieg miterleben
durfte !«343
Tatsächlich hatte Paul während der NS-Zeit beruflich mehr Erfolg als Attila.
Goebbels soll von seinen Unterhaltungsqualitäten »restlos begeistert«344 gewe-
sen sein. Zwischen 1933 und 1945 wirkte Paul Hörbiger an 61 Filmen mit,
davon an sechs mit politischen Inhalten. Ansonsten war er vor allem in Produk-
tionen zu sehen, die sehr geschickt Unterhaltung mit Propaganda vermischten,
zum Beispiel in dem Publikumserfolg »Wunschkonzert« von 1940. Paul Hör-
biger galt daher nicht als »politischer« Darsteller im engeren Sinne. Allerdings
wurde gerade in Kinostreifen wie »Wunschkonzert«, die eigentlich dem Genre
»Unterhaltungsfilm« zuzuordnen sind, die Frontwirklichkeit verharmlost und
glorifiziert – denn »Optimismus gehört nun einmal zur Kriegsführung«345, wie
Goebbels postulierte.346
Im April 1942 wurde Paul Hörbiger zum »Staatsschauspieler« ernannt.347 In
der retrospektiven Eigendarstellung348 wandelte er sich danach zum Widerstän-
digen – ein Bild, das Jelinek im »Burg theater«-Stück anhand der Darstellung
ihrer Figur Schorsch destruiert, denn dieser erschlägt gleichzeitig den Alpen-
könig, der als Verkörperung des Widerstands begriffen werden kann, und steckt
ihm noch schnell zehntausend Taler zu – eine unmissverständliche Anspielung
Jelineks auf die »Scheck-Affäre« Paul Hörbigers : Der Schauspieler wurde Ende
Jänner 1945, wenige Monate vor Kriegsende, von der Gestapo verhaftet, weil
er im November 1944 einen Scheck über zweitausend Reichsmark an seinen
Freund Richard Patsch, Besitzer des Wiener »Café Kaisergarten« und Mitglied
einer Widerstandsbewegung, übergeben hatte. Aufgrund seiner Unterschrift
konnte Hörbiger mit Leichtigkeit von der Gestapo ausgeforscht werden. Der
343 Paul Hörbiger, zitiert nach : Steiner, Die verdrängten Jahre, S. 81.
344 Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet, S. 244.
345 Goebbels, zitiert nach : Ebd., S. 245.
346 Ebd., S. 244 f.
347 Vgl. ebd., S. 245.
348 Paul Hörbiger verfasste in den 1970er Jahren seine Memoiren mit dem Titel »Ich hab für euch
gespielt«.
168 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319