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Hörbigers aus der Nachkriegszeit in ihren Theatertext integriert. Die Absicht
wird der Autorin hier insofern unterstellt, als dass davon ausgegangen werden
kann, dass sie damit ihr literarisches Vorhaben unterstreichen wollte, Paula
Wessely, die in dem Stück exemplarisch für viele andere Künstler des »Dritten
Reichs« steht, nicht für ihre Teilnahme an dem Filmprojekt in der NS-Zeit,
sondern die Verlogenheit und Scheinheiligkeit der Nachkriegszeit an den Pran-
ger zu stellen. Die Rolle als Henriette Alt in »Der Engel mit der Posaune«
hingegen kann durchaus als cineastische Reinwaschung Wesselys interpretiert
werden, mit der das Thema der persönlichen Vergangenheitsbewältigung für die
Schauspielerin (zumindest vordergründig) abgehakt war.
Auch der »Engel«-Film muss letzten Endes als tendenziös bezeichnet wer-
den, da er die Schilderung der Kriegsjahre ausspart und den Nationalsozialis-
mus – dem Opfermythos gemäß – »in einer fatalistischen Blickweise als eine
Art Naturgewalt« darstellt, »die über Österreich hinweggefegt ist«357. Über den
»Engel mit der Posaune« hinaus waren die Wessely/Hörbigers in den 1950er Jah-
ren in vielen weiteren österreichischen Filmproduktionen, darunter zahlreichen
Heimatfilmen, zu sehen, die jene heile Welt beschwörten, die nach Jelinek in
Wirklichkeit die »Blut-und-Boden-Mythologie der Nazikunst«358 weiterführten.
Auch dies trug nicht gerade zur ehrlichen Konfrontation mit der NS-Vergangen-
heit im österreichischen Gedächtnis bei, ganz im Gegenteil : Das Trivialmedium
Heimatfilm manifestierte in seiner scheinbaren Harmlosigkeit und Unschuldig-
keit den österreichischen Opfermythos in den Köpfen der Menschen.
Ein interessantes Detail zu »Der Engel mit der Posaune« ist, wie in der Zeit-
schrift Spiegel (die in einer Ausgabe des Jahres 1948 von der Premiere des Films
berichtete) nachgelesen werden kann, dass Paula Wessely die Verfilmung des
Romans von Ernst Lothar, der nach dem »Anschluss« 1938 im amerikanischen
Exil geweilt hatte, überhaupt erst angeregt haben soll :
»… Paula Wessely erhob sich und gab zu, daß sie beim Lesen des Buches auf die Idee
gekommen sei, einen großartigen österreichischen Film danach zu drehen. Sie sagte
das mit der natürlichen Herzlichkeit und herzlichen Natürlichkeit, die mehr als wiene-
risch, die ganz wesselysch ist.«359
Damit ist eine »natürliche Herzlichkeit« und »herzliche Natürlichkeit« an-
gesprochen, die Elfriede Jelinek negiert und in einer Stellungnahme zu Paula
357 Ebd.
358 Jelinek, zitiert nach : Hochholdinger-Reiterer, Amok, S. 51.
359 Der Spiegel, Nr.
35, 1948, 1948. Der Artikel kann online im Spiegel-Archiv abgerufen werden
unter : http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44418970.html (Zugriff am 5.3.2011).
170 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319