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textualität nachzugehen ; enstanden ist ein sehr dichter, komprimierter Text mit
vielen Schachtelsätzen und vielen eingeschobenen direkten Zitaten ; Inhaltsan-
gabe und Interpretation wechseln einander ab. Tatsächlich sind Lückes Deu-
tungsansätze, denen prinzipiell beizupflichten ist, nur mit viel Vorwissen gut
nachvollziehbar ; eine klarere Sprache und mehr Struktur wären meines Erach-
tens wĂĽnschenswert gewesen, um einen LektĂĽre- und Interpretationsvorschlag
für einen so komplexen und ästhetisierten Roman wie »Die Kinder der Toten«
für ein gewilltes Lesepublikum anzubieten. Zudem lässt es Lücke, und auch
das muss leider kritisch angemerkt werden, an sprachlicher Sensibilität vermis-
sen, wenn sie Jelinek unkommentiert als »Halbjüdin«397 bezeichnet, was der
NS-Diktion und nicht der jĂĽdischen Halacha entspricht.398
Sehr systematisch hingegen erscheint Alexandra Pontzens 18-seitiger Auf-
satz »Pietätlose Rezeption ?«399, der 2006 entstanden ist und Jelineks Umgang
mit Literaturtraditionen in »Die Kinder der Toten« thematisiert. Pontzen kon-
zentriert sich auf drei wesentliche Referenzsysteme des Buchs : zum einen auf
die spezifischen Folien der Textorganisation (Oberflächenhandlung und Er-
zählinstanz), zum anderen auf Jelineks Bezüge zu Leberts »Wolfshaut«-Roman
sowie auf die Frage, inwieweit und in welchen Formen Realien und Diskurse
der Shoah in »Die Kinder der Toten« eine Rolle spielen. Zwar stellt Pontzen in
ihrem Beitrag fest, dass die Lektüre des Romans »anstrengend«400 sei und die
Dekodierungsarbeit des Rezipienten, zumindest in Hinblick auf Jelineks Sho-
ah-Referenzen, aufgrund der von Jelinek vorgenommenen Mehrfachkodierung
»zwangsläufig fehlschlagen«401 müsse ; schließlich sei der »Kreis adäquater Le-
ser«402 klein oder in letzter Konsequenz gar nicht vorhanden. Dennoch schafft
sie esÂ
– ohne auf inhaltliche Fragen näher einzugehen, sondern vielmehr Jelineks
sprachliche Kunstgriffe zu fokussieren –, einen gelungenen ersten Einblick in
die Strukturierung des Romans und einige seiner wesentlichen Intertexte zu
bieten.
Aus dem Jahr 2008 stammt Moira Mertens’ Magisterarbeit über die »Äs-
thetik der Untoten« in Jelineks Roman.403 Mertens weist darauf hin, dass eine
397 Ebd., S. 91.
398 Laut Halacha (dem rechtlichen Teil des Talmuds) ist derjenige Jude, der von einer jĂĽdischen
Mutter geboren wurde oder zum Judentum konvertiert ist. Zwischen »Voll-«, »Halb-« und
»Vierteljuden« wird dabei nicht unterschieden.
399 Pontzen, Pietätlose Rezeption, S. 51–69.
400 Ebd., S. 54.
401 Ebd., S. 55 f.
402 Ebd., S. 56.
403 Die an der Universität Berlin approbierte Abschlussarbeit wurde zwar bislang nicht veröf-
fentlicht, ist aber ĂĽber die Homepage des Jelinek-Forschungszentrums als pdf abrufbar. Mer-
176 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. ResĂĽmee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319