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3.2.1.1 Zur speziellen Rezeptionsproblematik des Romans
»…kein Kritiker, auch der wohlgesinnteste nicht,
versäumte den Hinweis, dass diese Lektüre
Arbeit bedeute und der Inhalt des Buchs kaum
wiederzugeben sei.«407
Ebenso einhellig wie der Roman kurz nach seinem Erscheinen als Jelineks
Hauptwerk anerkannt wurde, haftete ihm sogleich auch der Ruf der Unlesbar-
keit an. Eine »nacherzählbare Geschichte« gebe es darin nicht, meinte etwa die
Literaturkritikerin Iris Radisch in einer vernichtenden Buchbesprechung, im-
merhin aber einen »personalen Zusammenhang« der drei (untoten) Hauptfi-
guren.408 Ingesamt bedauerte sie die »mittelmäßigen Sprachspiele«, denen die
Kraft und der Scharfsinn der Zerstörung fehle : »Null mal null bleibt null und
das große österreichische Gesamtkunstwerk ein gigantisches Leerstück«409, so
Radisch enttäuscht.
Sogar Sigrid Löffler – eine Jelinek bekanntlich wohlgesinnte Rezensentin –
befand, dass das Buch »sperrig und abweisend« und schließlich »verdammt
schwer zu lesen« sei. Dem hartnäckigen Leser könne es allerdings auch »un-
geahnte Entschlüsselungserlebnisse« bescheren, so Löffler abschließend und
verweist auf James Joyce’ Roman »Finnegans Wake«, der ähnliche Rezeptions-
probleme bereithalte.410
Günther Scheidl beschreibt Jelineks Roman als »gigantischen Monolog«411,
in dem es keine Handlung im herkömmlichen Sinn gebe, zumindest aber ge-
wisse Handlungsstränge ausgemacht werden können.
Auch Mertens kann mehrere Erzählstränge ausfindig machen, räumt aber
gleichzeitig ein, dass diese ineinander verschlungen, abgebrochen, wiederholt
und schließlich von zahlreichen Kommentaren eines multiperspektivischen Au-
torinnen-Ichs unterbrochen seien, was die Lektüre dementsprechend erschwe-
re.412
Pontzen stellt fest, dass sich Jelineks Texte generell »nicht ausschließlich li-
near«413 lesen lassen : Wer Büchern wie »Die Kinder der Toten« gerecht wer-
407 Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 207.
408 Radisch, Maxima Moralia, unpaginiert.
409 Ebd.
410 Löffler, Am Eingang zur Unterwelt, S. 11.
411 Scheidl, Ein Land auf dem rechten Weg, S.
149. Zu der monologisierenden Erzählinstanz vgl.
Kapitel 3.2.5 dieser Studie.
412 Vgl. Mertens, Untote, S. 4.
413 Pontzen, Pietätlose Rezeption, S. 53.
178 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319