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des »Animismus« zusammenhänge : eine Auffassung, die von der Erfüllung der
Welt mit Menschengeistern ausgegangen sei und sich unter anderem durch die
narzistische Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge, die Allmacht der
Gedanken und die Technik der Magie ausgezeichnet habe.479 »Es scheint, daß
wir alle in unserer individuellen Entwicklung eine diesem Animismus der Pri-
mitiven entsprechende Phase durchgemacht haben«480, schreibt Freud – bloß
dass wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben, diese Gefühle ins Unterbe-
wusste zu verdrängen. Dementsprechend sei das Unheimliche »nichts Neues
oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm
durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist«481. Das Unheimli-
che sei schließlich darin zu erkennen, was »im Verborgenen hätte bleiben sollen
und hervorgetreten ist«482. Im allerhöchsten Maße unheimlich erscheine vielen
Menschen dabei alles, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr
der Toten zusammenhänge – vermutlich weil es, allen wissenschaftlichen Er-
kenntnissen zum Trotz, immer noch unmöglich sei, die eigene Sterblichkeit zu
imaginieren.483 Die Entfremdung des Vertrauten – in seiner größtmöglichen
Steigerung : das tote Ich – kann daher als das eigentliche »Unheimliche« aus-
gemacht werden. Die Vorsilbe »un-« an dem Wort »heimlich« stellt nach Freud
dabei die »Marke der Verdrängung«484 dar. Das vergnügliche Gruseln am Un-
heimlichen in Literatur, TV und Film entspricht demnach einem verdrängten
animistischen Urempfinden des Menschen.
Die romantische Literatur des 19. Jahrhunderts hat einige berühmte Bei-
spiele für die unheimliche Wiederkehr der Toten hervorgebracht, deren
Spannweite von Mary Shelleys »Frankenstein« bis zu Bram Stokers »Dracula«
reicht, die als Evergreens des Wiedergängertums sowohl in die Literatur- als
auch in die Filmgeschichte eingegangen sind, dabei einer gewissen Romantik
aber nicht entbehren, weil sie auch die leidende, verletzliche Seite der unheim-
lichen Kreatur thematisieren. Die Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts hat
die Untoten schließlich zu einem Massenphänomen gemacht (siehe die Er-
folgschichte der »Twilight«-Tetralogie von Stephenie Meyer bzw. deren Lein-
wandversion).485 Inzwischen sei, so Kastberger, auch eine »Trash«-Variante
des Motivs bekannt :
479 Vgl. Freud, Das Unheimliche, S. 253.
480 Vgl. ebd.
481 Ebd., S. 254.
482 Ebd.
483 Vgl. ebd., S. 254 f.
484 Ebd., S. 259.
485 Vgl. Kastberger, Endspiele, unpaginiert. 191
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319