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Auf der anderen Seite braut sich – parallel zu diesem exemplarischen Hand-
lungsstrang – ein stinkendes, braunes, stockendes Meer aus Leichen zusammen,
das am Ende den Ort des Geschehens über- und unterspült :
»Es ist böses Wasser par excellence… Ein Brei, in dem obenauf Knorpel und Haarmo-
rast treiben und in dem verwesendes Menschenfleisch schwimmt. Von den Seiten nährt
sich der anschwellende Strom aus nicht weniger grausigen Armen : Tödliche Mund-
spülungen, (Monats)blutungen, Kammerwasser, Eiter, Kotze und Kot münden ein.«502
Die (untoten) Toten sind von Anfang an überall : in der Luft, in den Gewässern,
unter der Erde. Allerdings befinden sie sich zunächst im Verborgenen, ihre An-
wesenheit wird von den Lebenden nur intuitiv oder als kalter Lufthauch oder als
dunkle Wolke wahrgenommen.503
Die Ermordeten (»Sechsmillionen«504) einer verdrängten Vergangenheit
müssen sich erst aus dem Verborgenen hervorarbeiten – und hier finden wir
Freuds Definition des »Unheimlichen« wieder : »… etwas, das im Verborgenen
hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist«505. Dieses »Etwas« in »Die Kinder
der Toten« ist Österreichs (Mit-)Schuld an den Verbrechen des Nationalsozia-
lismus – und es ist hässlich, denn die Untoten sind bei Jelinek »eher hirnlose,
sprechunfähige, sexbessene Zombies« denn »vergeistigte Erscheinungen mit
Sinn für das Schöne und Erhabene«506, wie sie in der Literatur des 19. Jahrhun-
derts vorzufinden waren.
Die Allgegenwärtigkeit der Holocaust-Ermordeten wird im Laufe des Rom-
ans immer nachdrücklicher, die Bedrohung für die Lebenden immer eindring-
licher.
Und so kriechen die zu Unrecht Ermordeten schließlich als unbarmherzige,
untote Rächer massenhaft aus den Wänden oder erheben sich aus schlammi-
gen Pfützen. Manchmal sind es nur einzelne Körperteile, abgetrennte Glied-
maßen oder halbe Schädel, die in dem »bösen Wasser«507 herumschwimmen
oder aus der Erde hervorlugen. Durch die starken Regenfälle verbinden sich
die unzähligen Leichen bzw. Leichenteile mit diversen anderen Flüssigkeiten,
bis sie schließlich als ein einziger »Richtblock Wasser«508 erscheinen, der eine
502 Kastberger, Endspiele, unpaginiert.
503 Zu den Andeutungen der wiederkehrenden Toten mit Natur-/Wettererscheinungen vgl. Ka-
pitel 3.2.6 dieser Studie.
504 KDT, S. 453.
505 Freud, Das Unheimliche, S. 254.
506 Mertens, Untote, S. 5.
507 Vgl. Kastberger, Endspiele.
508 KDT, S. 253. 195
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319