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bleierne Oberfläche über die steirische Landschaft legt und alles Leben unter
sich erstickt.
Womöglich hat Jelinek mit »Die Kinder der Toten« tatsächlich Freuds Auf-
satz über das »Unheimliche« in »Splatter«-Manier literarisch umgesetzt.509 Bei
Jelinek ist dieses Motiv allerdings als (sehr zielorientiertes) Mittel zum Zweck
zu begreifen – die implizite, aber deswegen nicht weniger eindringliche, weil
unheimliche Kritik an einem verdrängten Kapitel österreichischer Geschichte :
der Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus und des Zweiten
Weltkriegs.
3.2.3.2 Die immerwährende Schuld : Leberts »Wolfshaut«
»Die Toten haben Hunger. Man sollt’
sie halt füttern.«510
1960 erschien Hans Leberts Debütroman »Die Wolfshaut«. Der Autor, Neffe
und Firmsohn von Alban Berg511, war damals 41 Jahre alt. Über viele Jahre
hinweg hatte er an dem Roman gearbeitet. Wie Elfriede Jelinek kam auch Hans
Lebert ursprünglich aus der Musik : Als junger Mann hatte er sich sein Geld
als Operntenor verdient, wobei er Wagner-Opern preferierte. Es war demnach
kein Zufall, dass er seinem Roman ein Zitat aus der Wagner-Oper »Walküre«
vorangestellt hatte : »Doch ward ich vom Vater/ versprengt ;/ seine Spur verlor
ich,/ je länger ich forschte./ Eines Wolfes Fell nur/ traf ich im Forst ;/ leer/ lag
das vor mir :/ Den Vater/ fand ich nicht.«512
Während der NS-Zeit hatte sich Lebert seiner Einberufung in die Wehr-
macht widersetzt und war deshalb 1941 wegen »Zersetzung der Wehrkraft«
angeklagt worden. Durch die Vortäuschung einer paranoid-schizophrenen Stö-
rung konnte er sich nach fast sechs Monaten Untersuchungshaft seiner Verur-
teilung entziehen und lebte bis Kriegsende zurückgezogen in den steirischen
Bergen.513
509 Vgl. Mayer/Koberg, Ein Porträt, S. 204.
510 Lebert, Die Wolfshaut, S. 51.
511 Lebert legte Wert auf die Feststellung, dass die Schwester seiner Mutter mit Berg verheiratet
war und deshalb keine direkte Blutsverwandtschaft zu dem berühmten österreichischen Kom-
ponisten bestand. Er habe den Firmonkel, der ihm statt der obligatorischen Uhr sinnigerweise
eine Schreibmaschine geschenkt habe, aber schon gern gehabt. Vgl. Dobrick, »Bei dem zwei-
ten habe ich nicht mehr gelacht«, S. 10 und 14.
512 Lebert, Die Wolfshaut, S. 5.
513 Vgl. Gauß, Der Österreich-Liebhaber, unpaginiert. Vgl. dazu auch Leberts eigene Schilderun-
gen : Dobrick, »Bei dem zweiten habe ich nicht mehr gelacht«, S. 15 fff.
196 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319