Seite - 201 - in Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek - Eine historiografische Untersuchung
Bild der Seite - 201 -
Text der Seite - 201 -
»Das Leben ist eine der vielen Naturkletterschulen, in der unser Schöpfer möglichst
viele von uns möglichst rasch loswerden kann. Wir werden von ihm ja nicht als Obst
geboren, daß man uns endlos auspressen oder als Seele in Knödel stopfen kann.«546
»Sie (wer ?) sollen sie wieder auf der Erde wohnen lassen.«547
»Es liegt eine fremde Hand über allem, die Hand eines Mittlers, der seine Gebühren
fordern wird, denn die verschwundenen Mieter haben nicht verdient, was sie bekom-
men haben, und so muß einer für sie zahlen.«548
Demnach sucht diese (unheimliche, zornige) Gottesinstanz Rache für die Milli-
onen Ermordeten des Holocaust und bekommt sie letzten Endes auch : Sowohl
bei Lebert als auch bei Jelinek kehren die Toten zurück, bei Jelinek in Massen,
und »verschaffen der Erde ein unheimliches Strafgericht«549.
Auch das Schweigen über die Toten des Nationalsozialismus, nach Jelinek
Teil der österreichischen »Staatsdoktrin«550, ist eine auffällige Parallele der bei-
den Romane : Bei Lebert ist es explizit im Namen des Dorfes formuliert, bei
Jelinek fällt es als rekurrentes Textelement auf, das den Roman von Anfang bis
Ende in unterschiedlichen Zusammenhängen begleitet.551
Darüber hinaus ist auch die Pointe von Jelineks Roman, die Verschüttung
der »Pension Alpenrose« durch die Mure, möglicherweise eine Entlehnung aus
Leberts »Wolfshaut«, worauf Pontzen in ihrem Aufsatz hinweist552 und wie aus
folgender Textpassage rückgeschlossen werden könnte :
»Aus weit aufgerissenen Augen sah er [die Figur »Habicht«, ein Gendarm] zurück und
erblickte hinter sich die Mure, einen Fladen, der bereits drei Meter hoch, noch immer wie
ein wüster Brotteig aufging und die Knorren vergessener Bäume emporbrodeln ließ
…«553
In »Die Kinder der Toten« ist die Bedrohung durch die Mure jedoch eindring-
licher, da sich das Regenwasser nicht nur mit brauner Erde, sondern auch mit
diversen Leichenteilen vermischt, die am Schluss des Romans die »Pension Al-
546 KDT, S. 25.
547 KDT, S. 54.
548 KDT, S. 164.
549 Kastberger, Endspiele. Kastberger bezieht in seinen Vergleich auch Ödön von Horváth mit
ein (vor allem dessen Stück »Der jüngste Tag«).
550 Jelinek, Die Österreicher als Herren der Toten, S. 61.
551 Textbeispiele dazu in Kapitel 3.2.5 dieser Studie.
552 Vgl. Pontzen, Pietätlose Rezeption, S. 62.
553 Lebert, Wolfshaut, S. 466. 201
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319