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brechen des Nationalsozialismus bemitleidet oder die »Kleinigkeit von ein paar
Millionen Toten«575 herunterspielt, oder doch das Kollektiv der Untoten (wo-
rauf durch wiederholte Andeutungen auch geschlossen werden könnte) bleibt
unklar. Einmal zählt sie sich zu »uns Lebenden«576, die sich (»Und wie… !«577)
auf den Tod vorbereiten wollen, und nur einige Absätze später zu »uns Toten,
Maden im Speck des Lebendigen«578. Möglicherweise wird damit auch ange-
deutet, dass diese beiden Kollektive nicht voneinander trennbar sind.
Zudem stellt sich die Erzählinstanz mitunter selbst ironisch in Frage und
relativiert die Illusion der Allwissenheit (»… was wollte ich im Grunde sa-
gen ?«579), was zum einen generell ein Charakteristikum von Jelineks offensivem
Umgang mit dem als neurotisch umschriebenen Ich darstellt und zum anderen
in »Die Kinder der Toten« die Fassbarkeit der Erählinstanz vermutlich zusätz-
lich erschweren soll
– wie auch alle anderen Figuren des Romans und sämtliche
Figuren in Jelineks Theater- und Prosatexten ist auch sie eine »Vermischungs-,
Verschränkungs-, Kunst- und Kippfigur«580.
Auf die Funktion der multiperspektivischen Erzählinstanz kann mit Blick
auf die übergeordnete Fragestellung dieser Studie rasch rückgeschlossen wer-
den. Der unterstellten Bedeutung wird im folgenden Unterkapitel eingehender
nachgegangen.
3.2.5.1 Eine »Opfer-Täter-Kippfigur«
»… der Erzähler steigt hinunter in den Abgrund,
hinab zu den Toten, … so dass sich auch ein
sprachlicher Abgrund vor den Lesern auftut.«581
Die multiperspektivische Erzählinstanz in »Die Kinder der Toten« artikuliert
ebenso Momente der Schuld (»Ins Gas sind viele geschickt worden…«582) wie
Verdrängung und fehlendes Unrechtsbewusstsein (»Dann werden wir damals
nicht zu Hause gewesen sein.«583).
575 KDT, S. 98.
576 KDT, S. 39.
577 KDT, S. 39.
578 KDT, S. 40.
579 KDT, S. 68.
580 Lücke, Elfriede Jelinek, S. 9.
581 Lücke, Elfriede Jelinek, S. 97.
582 KDT, S. 70 f.
583 KDT, S. 19. 205
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319