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Spalt einer Orgelpfeife, so ein leiser Ton : Mutter, Mutter erkennst du mich nicht ? Ich
bin zwar kein Sohn, aber tot bin ich schon.«612
Den Klang von Orgelpfeifen kennt die Verfasserin dieser Zeilen als diplomierte
Organistin nur zu gut. (Die untote Protagonistin in »Carnival of Souls«, Mary,
ist – welch Zufall – ebenfalls Organistin.) Aber auch die Figur Gudrun soll zu
Lebzeiten ihre Kräfte fürs Klavierspiel aufgebracht haben (»Wie ein letzter Vor-
wurf ist die Klinge zwischen den Sehnen, die Gudrun früher fürs Klavierspie-
len benötigt hat, ins Weiche gesprungen, als bestiege sie ein Pferd.«613) – eine
Ergänzung, die wiederum als verspielter Hinweis auf die Autorinnenbiografie
interpretiert werden kann.
Auch die Kleidung der Karin Frenzel, an der die Mutter im Roman wie-
derholt herumkritisiert, ist immer wieder Thema, wenn es um Jelineks eigene
Darstellung in der Öffentlichkeit geht : Wiederholt wurde die Autorin in Inter-
views gefragt, wie sie ihren Faible für Mode und Accessoires mit ihren schrift-
stellerischen Ansprüchen unter einen Hut bringen könne. »Es ist eigenartig, daß
mir das so oft vorgeworfen wird, daß ich mich für Kleider interessiere«614, so
Jelinek in einem Interview, sie sehe nicht ein, warum sie sich diese Spielerei
versagen solle, nur weil die Leute meinen, Feministinnen müssten sich in Sack
und Asche kleiden.615 Auch in einem Interview nach dem Bekanntwerden der
Nobelpreis-Entscheidung sagte Jelinek, dass sie gedenke, das Preisgeld, immer-
hin knapp 1,1
Million Euro, für ein japanisches Designerkleid auszugeben (und
meinte es freilich nicht ernst).616 Die Figur Erika Kohut in »Die Klavierspie-
lerin« muss sich vor der Mutter dafür rechtfertigen, wenn sie mit dem selbst
verdienten Geld ein neues Kleid kauft (»Es schreit die Mutter : Du hast dir
damit späteren Lohn verscherzt ! … da du nicht warten konntest, hast du jetzt
nur einen Fetzen, der bald unmodern sein wird.«617).
Neben diesen mehr oder weniger direkten Anspielungen auf die Beziehung
zur Mutter ist es vor allem das Schicksal der jüdischen Vater-Familie, das Jelinek
unverhohlen in den Text miteingebracht hat, etwa als sie zur Mitte des Buches
(S. 333) mit den Bedeutungsvarianten des Wortes »mögen« spielt : Der Name
612 KDT, S. 487.
613 KDT, S. 52.
614 Jelinek, zitiert nach : Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, S. 15 f.
615 Vgl. Winter, Gespräch mit Elfriede Jelinek, S. 16.
616 Vgl. profil, Nr. 49, 2004, S. 130. Diese Aussage ist allerdings als Koketterie zu verstehen. We-
nige Wochen zuvor hatte Jelinek angekündigt, für sich nur einen Teil des Preisgeldes behalten
zu wollen und den Rest zu spenden, vielleicht an engagierte Frauenprojekte. Vgl. profil, Nr.
42,
2004., S. 124.
617 Jelinek, Die Klavierspielerin, S. 8.
210 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319