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In »Die Kinder der Toten« wird klargemacht, dass die Opfer des Sports –
ebenso wie die Opfer des Kriegs – keine Bedeutung haben :
»… jeder Spaziergang wird hierzulande so eingerichtet, daß die Essenszeit nicht ver-
säumt werde. Mit Essen richten wir uns ein, da kommt es schon vor, daß man verse-
hentlich ein paar Menschen mitißt, das zählt hier noch zum Sport.«662
Wenn es weiters in »Die Kinder der Toten« heißt, dass wir beim Sport oft auf-
geben, weil uns klar ist, dass wir »nicht zu den Siegern«663 gehören, dann ist mit
großer Sicherheit nicht der Krieg des Sports damit gemeint, denn österreichi-
sche Athleten sind – abgesehen von den eher glücklosen Fußball-Nationalspie-
lern – auch auf internationaler Ebene erfolgreich. Dass Jelinek die Diktion des
Sports immer wieder mit Parolen des Kriegs verknüpft, ist vielmehr als Hinweis
darauf zu werten, dass der tatsächliche Krieg gemeint ist, in den wir unsere
Söhne geschickt haben und der eine »fünfundzwanzig Meter lange Blutspur im
Schnee«664 hinterlassen hat, denn Österreich gehört, gemeinsam mit Deutsch-
land, zu den klaren Verlierern des Zweiten Weltkriegs.
Im Roman ist der Sport schon alleine deshalb als rekurrentes Textelement
auffällig, weil eine der untoten Hauptfiguren, Edgar Gstranz einen gewe-
senen Nationalsportler darstellt – und wohl nicht zufällig einen Skifahrer : Der
alpine Skisport ist in Österreich besonders populär, dementsprechend viel Geld
wird auch in diesen Bereich investiert. Dessen wirtschaftliche Umwegrentabi-
lität macht sich vor allem für die Tourismusindustrie bezahlt, die den alpinen
Wintersport zu Vermarktungszwecken hinlänglich zu nutzen weiß. Auf Pla-
katen und in TV-Einschaltungen der Tourismuswerbung werden glitzernde
schneeweiße Berge und glückliche, lachende Menschen gezeigt, die verschlafene
Tiefschneehänge herunterwedeln. Die Mythosbildung findet hier vor allem im
Bildbereich statt. Wie aus dem Kapitel über Roland Barthes’ Mythentheorien
bekannt, kann jedes Medium zum Träger einer mythischen Aussage werden, so-
wohl der geschriebene Diskurs als auch die Fotografie, der Film, die Reportage,
das Schauspiel oder Werbeplakate.665
Solche Bilder zieht Jelinek heran, entfremdet und verzerrt sie aber, um sie als
Mythen kenntlich zu machen, und schreibt ihnen das Unheimliche ein, etwa
wenn sie die unaufhörlichen Skiabfahrten des mit dem Auto tödlich verun-
glückten Edgar Gstranz begleitet, der möglicherweise eine Anspielung auf
662 KDT, S. 421.
663 KDT, S. 127.
664 KDT, S. 32.
665 Vgl. Barthes, Mythen des Alltags, S. 87.
218 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319