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ist Jelinek ein Dorn im Auge. Anhand ihrer Figur Edgar macht sie wiederholt
die Verquickung mit dem Opfermythos deutlich, etwa wenn sie schreibt, dass
ihre Figur einem »Meer von Landsleuten« ähnlich ist :
»[Diese] stimmen immer mit großen Mehrheiten ab und sind dann verwundert, wenn
sie die Geschichte auf einmal hinter sich haben, die sie, tragende Säulen, grade eben
noch machtvoll über sich gespannt hatten und mit rechten Geraden in sich hineinsto-
ßen fühlten. So viel von etwas haben sie nun auch wieder nicht gewollt…«671
Die hier genannte »große Mehrheit« verweist vermutlich auf die Volksabstim-
mung zum so genannten »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, der
am 10. April 1938 mit über 99 Prozent der Stimmen bestätigt worden war.672
Die »rechte Gerade« bezeichnet den rechten Arm, der ausgestreckt zum Hit-
ler-Gruß erhoben wurde – nach dem »Anschluss« von vielen Tausenden, die
sich in einem Menschenmeer am Wiener Heldenplatz und auch an vielen an-
deren österreichischen Plätzen eingefunden hatten, um den Machtwechsel zu
bejubeln. Dass »so viel von etwas« nicht gewollt gewesen wäre, verweist auf die
österreichische Selbstcharakterisierung, die zur Verniedlichung und Diminuie-
rung tendiert (»ein bisserl« hätten wir nur gerne mitgemacht…).
In »Die Kinder der Toten« wird der Sport als Mythos destruiert : ein Vehikel
der Massenmobilisierung, dessen sich die Nationalsozialisten in den 1930er/40er
Jahren erfolgreich bedienten und das nach dem Zusammenbruch des Regimes
bis heute zur Verwässerung des nationalen Selbstbildes beiträgt, indem es ein-
fache Bilder zur Verfügung stellt, die Idylle (glitzernde Tiefschneehänge), die
Stärkung völkischen Zusammenhalts und sportliche Höchstleistungen einzelner
Athleten zu Zwecken der unhinterfragten kollektiven Identifikation mit dem
Vaterland in den Vordergrund stellen. Die Abgründe der Vergangenheit gehen
dabei im Scheinwerferlicht des allgemeinen Erfolgstrubels unter.
671 KDT, S. 283.
672 Vgl. Haas, Der Anschluss. Vgl. auch Steiner, Die verdrängten Jahre, S. 79.
220 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319