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Zudem scheint die Autorin, selbst diplomierte Organistin, die Qualität der dar-
gebotenen Musikstücke für unerträglich zu halten, da sich die Erzählinstanz in
»Die Kinder der Toten« sehr deutlich mit einer Botschaft über den regelmäßig
am Samstag Abend ausgestrahlten »Musikantenstadl« an das öffentlich-recht-
liche Fernsehen wendet :
»… ich denke mich noch nicht als ein Neuerer, bloß weil ich immer etwas hinzuerfinde,
was aber schon oft gedacht wurde, allerdings muß ich dem ORF und dem ZDF sagen :
Diese Musik ist grauenvoll.«678
Ein weiteres Charakteristikum trivialer Musikgenres ist, dass sie zu einer nahezu
uneingeschränkten Form der Identifikation (zum »Mitschunkeln«) einladen, in
der kritische Reflexion keinen Platz hat. Jelinek geht in ihrer Kritik sogar noch
weiter, denn auch an der echten Volksmusik (die sich in ihrer musikalischen
Komplexität doch erheblich von Schlagermusik oder der so genannten »volks-
tümlichen Musik« unterscheidet) lässt sie kein gutes Haar. Ein sehr expliziter
Verweis auf die scheinbare Idylle, die im »Musikland« Österreich mit Singen
und Jodeln aufrechterhalten werden will, findet sich zum Beispiel in folgender
Passage :
»… siehe da, die Menschen werden gestimmt, sie werden fröhlich gestimmt, und die
Architektur versucht, uns eine ländliche Harmonie vorzuspielen, die man ›das Jodeln‹
nennt.«679
Dass die Menschen »gestimmt« werden, kann dahingehend interpretiert wer-
den, dass sie auf politischer Linie gleichgeschaltet werden, dass sie »fröhlich
gestimmt« werden, dass sie weiters von kritischer Reflexion ferngehalten werden
und das, was ihnen an Identifikationsmöglichkeiten angeboten wird, unhinter-
fragt annehmen. Das genannte Jodeln ist dabei nur eines der möglichen Bei-
spiele, wie Einfluss auf die Masse genommen werden kann.
Neben dem Singen und Jodeln begleiten auch verschiedenste andere Me-
lodien aus verwandten Musikgenres den nicht versiegenden Sprachfluss in
»Die Kinder der Toten«, etwa der »Austria-Blues«680 eines weiteren »Austro-
barden«681, Ostbahn-Kurti : Karin Frenzel hofft, das quälende Schweigen
mit Musik aus dem Kofferradio unterbrechen zu können. Doch auch der »Herr
678 KDT, S. 439.
679 KDT, S. 42.
680 Vgl. KDT, S. 86.
681 KDT, S. 20.
222 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319