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Kurt Ostbahn« – in Österreich eigentlich als sozialkritischer Musiker bekannt –
wirft nur »seine triefenden Brocken ins Wilde hinaus, der Sänger der Arbeiter
und Angestellten, damit diese die Fleischfetzen, als fertige Scheibengerichte,
zwischen den Zähnen aus dem Nichts ihrer Wünsche wieder zurück apportie-
ren…«682. Versuche einer kritischen Auseinandersetzung verhallen unverstanden.
Und auch an dieser Stelle muss wieder auf die Jelinek’sche Methodik verwiesen
werden, die nichts dem Zufall überlässt, denn Kurt Ostbahn tönt (wie übrigens
auch Rainhard Fendrich683) ausgerechnet aus dem Kofferradio, was zeitlich we-
der zum Entstehungskontext des Buchs noch zu dem bekannten Musiker passt.
Das Kofferradio gilt als technische Errungenschaft und typisches Accessoire der
1950er und 1960er Jahre, bevor die Hörkultur vom Fernsehen abgelöst wurde.684
Diese ersten Dekaden nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen
Regimes standen unter dem Eindruck der »Stunde Null«, in der es galt, nach
vorne zu schauen und das Gewesene zu vergessen : den Krieg mit seinen großen
Verlusten auf allen Seiten und die bestialische Rassenpolitik des Regimes. Auf
diese Weise schafft Jelinek in »Die Kinder der Toten« eine Kulisse, in der neben-
bei erwähnte Kleinigkeiten große Bedeutung bekommen, denn sie staffiert ihre
unheimliche Szenerie geschickt mit »sprechenden Requisiten« aus (die Objekte
selbst werden zu Aussagen, wenn sie etwas bedeuten…).
Doch es gibt auch direktere Hinweise auf das große Thema des Romans, so
wird etwa die Popmusik als »übergroße Helle«685 bezeichnet, die uns immer
wieder ins Dunkel stößt und die »alte Leier«686 ablöst, was als Hinweis auf
Aussagen öffentlicher Personen, etwa Politiker, interpretiert werden kann, doch
endlich dieses Kapitel der österreichischen Geschichte auf sich beruhen zu
lassen (»… sprechen wir nicht mehr davon«687). Insgesamt werden die »öster-
reichischen Lieder im Radio«688 als seichte Unterhaltung für unmusikalische
Pensionisten und als Geschäftemacherei abgewertet (»…
damit der Sänger auch
ordentlich kassiert«689). Die Volksmusik, der Austropop und verwandte Mu-
sikgenres sind damit nach Jelinek zu jenen Trivialmythen zu zählen, die zur
Ent-historisierung und Ent-politisierung gesellschaftlicher Diskurse beitragen.
682 KDT, S. 86.
683 Vgl. KDT, S. 19.
684 Zur Radiohörkultur der 1950er und 1960er Jahre vgl. Weber, Das Versprechen mobiler Frei-
heit, S. 85–142.
685 KDT, S. 113.
686 KDT, S. 167.
687 KDT, S. 319.
688 KDT, S. 21.
689 KDT, S. 21. 223
»Die Kinder der Toten« |
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319