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eine Boulevardpresse, hierzulande gebe es keine Zeitung wie die Frankfurter
Allgemeine in Deutschland, die sich um die Aufarbeitung der NS-Geschichte
kümmerte.703
Und in der Tat scheint die Selbstreflexion im Sinne eines kollektiven Un-
rechtsbewusstseins und der Mitverantwortung an den Verbrechen der NS-Zeit
ohne eine gesellschaftspolitisch versierte und historisch-kritische Presse auch
heute noch, gut 20
Jahre nach Erscheinen des Romans und mit inzwischen über
70 Jahren Abstand zum nationalsozialistischen Regime, im österreichischen
Gedächtnis nur unzulänglich stattzufinden.704 In »Die Kinder der Toten« bietet
Jelinek schließlich die in diesem Sinne einzig logische Konsequenz an : »Eigent-
lich dürfte man überhaupt keinen einzigen Fernsehapparat besitzen.«705
3.2.5.4 Mythos der Unschuld von Bergen und Seen
»Dieses Land hat immer stillgehalten …
Seine Landschaft ist so schwierig, daß man nicht
einfach gradeaus gehen kann.«706
Mit der scheinbaren Unschuld österreichischer Natur befasst sich Jelinek bereits
seit langem. »Kennen Sie dieses Schöne land mit seinen tälern und hügeln ?«,
fragte die Autorin einleitend in ihrem »Liebhaberinnen«-Roman (1975), »es
wird in der ferne von schönen bergen begrenzt. es hat einen horizont, was nicht
viele länder haben. kennen Sie die wiesen, äcker und felder dieses landes ? ken-
nen Sie seine friedlichen häuser und die friedlichen menschen darinnen ?«707
Die Destruktion des Mythos Natur ist eines der vordringlichsten und dabei ein
immer wiederkehrendes Thema in ihrem Werk.708
In »Die Kinder der Toten« gelingt es der Autorin unter anderem über die
wiederholten Bezugnahmen auf die Mechanismen des Sports und dessen Aus-
beutung menschlicher Ressourcen auch die dafür in Kauf genommene Ausbeu-
tung der Natur vorzuführen (so rast zum Beispiel Edgar über rasierte Berge
dahin).
Hinter der vordergründigen Destruktion des Mythos Natur steckt eine his-
torisch-politische Botschaft, denn die Naturkatastrophe in Gestalt der stetig
703 Jelinek, zitiert nach : Venckute, Elfriede Jelinek im Zenit des Ruhms, unpaginiert.
704 Vgl. Kapitel 1.4.3 dieser Studie.
705 KDT, S. 436.
706 KDT, S. 16.
707 Jelinek, Liebhaberinnen, S. 5.
708 Vgl. etwa den Roman »Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr«.
226 | Lektüre- und Deutungsvorschläge
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
Eine historiografische Untersuchung
- Titel
- Der Opfermythos bei Elfriede Jelinek
- Untertitel
- Eine historiografische Untersuchung
- Autor
- Sylvia Paulischin-Hovdar
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20325-4
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 328
- Schlagwörter
- Elfriede Jelinek, Nationalsozialismus, Faschismus, Opfermythos, Dekonstruktion, Intertextualität
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 7
- 1. Einleitung 11
- 2. Methodische Reflexion 99
- 3. Lektüre- und Deutungsvorschläge 107
- 3.1 »Burg theater« 108
- 3.2 »Die Kinder der Toten« 173
- 3.2.1 Zur verwendeten Sekundärliteratur 173
- 3.2.2 Formales, Setting und Plot 181
- 3.2.3 Referenzen und Intertexte 186
- 3.2.4 Die Erzählinstanz als multiperspektivische Kunst- und Kippfigur 203
- 3.2.5 Der Opfermythos als perfides Geflecht nationaler Mythen 213
- 3.2.6 »Die Kinder der Toten« : Die große Anklage 245
- 3.3 »Das Lebewohl« 247
- 4. Resümee 279
- 5. Epilog – Wir waren’s nicht ? 296
- 6. Anhang 299
- 7. Register 319